Dziennik Kathariny
1. Der Weg ist das Ziel. Eine alte Weisheit – ein neuer Beweis
(Mit „Crotos” von Danzig bis Lemberg)
„Wir müssen ja nicht jeden Tag 100km fahren!”, rief eine sich bislang tapfer zeigende Mitradlerin nach rund 900km auf ihrem Tacho erfreut aus, als uns die Strecke für diesen Tag mit schlappen 50 Kilometern in Aussicht gestellt wurde. Ich musste widersprechen. Die letzten Tage und Wochen sind ein Beweis dafür, dass die Möglichkeit auf prägende Erlebnisse und außergewöhnliche Begegnungen sich proportional zur zurückgelegten Wegstrecke erhöht.
Es ist wie immer im Leben, wer sich nicht bewegt, dem bleibt viel von der Welt verschlossen.
Nun, Bewegungsmangel konnte man uns in den letzten drei Wochen nicht vorwerfen. In Sachen Hochleistungssport waren wir aber natürlich auch nicht unterwegs. Die durchschnittlich am Tag zurückgelegten 80 Kilometer ließen sich durch bevorzugte Nutzung der Asphaltstraßen verkürzen, sowie durch ausgiebige Picknick-, Besichtigungs- oder Badepausen eher gemütlich gestalten, allerdings auch bei weitem überschreiten, fällt es einem schwer, eine Windmühle am Wegesrand, verfallene Paläste auf umliegenden Anhöhen oder ähnliche Sehenswürdigkeiten unbesehen hinter sich zu lassen. Für des Sehens würdig befinden kann man schließlich nur, was man mit eigenen Augen gesehen hat.
Jeder Teilnehmer unserer Fahrradexpedition wird anderes gesehen haben, anderes für sehenswert gehalten haben und anderes erlebt haben, auch wenn wir doch alle viel, viel Zeit gemeinsam verbracht und dieselben Orte kennen gelernt haben. Zwischen Danzig und Lemberg käme man so auf ca. 25 bis 40 unterschiedlichste Reiseberichte, von Leuten, die die gesamte Strecke oder nur einen Teilabschnitt mitgeradelt oder sogar durch die Ukraine weiter bis Odessa gefahren sind.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Abhandlung auf deutscher Sprache verfasst wird, steht zu besagtem Routenverlauf allerdings nur 2:24, da sich außer mir nur noch Kathrin mit einem deutschen Reisepass im Rucksack zum Tourbeginn in Danzig einfindet. Alle anderen unserer Gruppe sind polnische Muttersprachler, was ich persönlich sehr begrüße. Neben einem gewissen Hang zum Unterwegs-Sein als Selbstzweck und dem Interesse Deutschlands Nachbarland in möglichst vielen Facetten kennen zu lernen, bot diese Tour de Pologne doch auch eine willkommene Möglichkeit, mein äußerst holperiges Polnisch etwas aufzupolieren.
Fairerweise muss man sagen, dass zu Kathrins Glück und meinem Leidwesen – wohl ausnahmslos alle auch in der Lage waren, sich auf Englisch, wenn nicht sogar auf Deutsch zu verständigen.
Um meinen Plan nicht von Anfang an zu vereiteln, denn natürlich verläuft eine Konversation auf dem gewohnten Englisch unbeschwerter, als die für mich mühevolle Suche nach polnischen Vokabeln inklusive dazugehöriger Endungen, wurde ab dem ersten Tag – Situation und Sympathie ungeachtet – jeder gemieden, der es wagte, sich mir mit Where? Why? What? zu nähern. Das wagte tatsächlich bald niemand mehr, dafür musste ich allerdings in Kauf nehmen, immer mal wieder ziemlich dumm und verständnislos aus der Wäsche zu blicken. Zudem scheinen einige erst nach drei Wochen gemeinsamen Reisens das Vertrauen entwickelt zu haben, es lohne die Mühe, ein polnisches Wort an mich zu richten.
Die Zahl der Slawistikstudenten steigt beständig, und nicht erst seit dem EU-Beitritt Polens gibt es zumindest in einer Stadt wie Berlin ein überaus reiches Angebot an (gut besuchten) Polnischkursen. Studenten aus Frankreich, Spanien, den USA kenne ich, die Polnisch lernen. Nur in Polen wird man angesehen, als leide man an einer besonders unberechenbaren Geisteskrankheit, versucht man allen Ernstes, sich in der Landessprache zu verständigen.
Vielleicht ist etwas dran. Schließlich gelingt auch nach drei Wochen meine Bastelei polnischer Satzkonstruktionen nur unwesentlich flinker, die Trefferquote bei den passenden Deklinationen brächte keine deutsche Partei in den Bundestag, und ich danke an dieser Stelle allen lieben Mitradlern, die bis zum Schluss die Geduld aufbrachten, jede Unterhaltung mit mir in ein fröhliches Ratespiel „Was könnte sie wohl meinen?” umzugestalten! Dennoch: Trotz einiger Ver(w)irrungen, von denen im Folgenden die Rede sein soll, hätte ich ohne meine linguistischen Bemühungen vieles nicht erfahren und wäre um so manchen Spaß gekommen, den zum Beispiel schon eine polnische Essensbestellung in der Ukraine machen kann.
Aber jetzt mal ganz von vorne.
2. Juli 2005 (Berlin – Danzig)
Ja, die Tour beginnt am 4. des Monats, und es würde durchaus reichen, erst am Abend vorher anzukommen, um seine noch sensiblen Hüftknochen in den Turnhallenboden des Unterbringungsortes zu bohren, aber die Deutsche Bahn hält es nicht für nötig, am Sonntag, den 3.7. die Zugverbindung von Berlin über Stettin nach Danzig bestehen zu lassen. Statt 10 Stunden wäre die Fahrt nun über Wroclaw oder Poznan auf 16 bis 18 Stunden auszudehnen. Also beschließe ich, die Reise eben einen Tag früher zu beginnen.
Durch mangelnde sprachliche Schulung des deutschen Bahnpersonals hätte alles noch vereitelt werden können. Der Zug nach Stettin hat Verspätung. Ob ihre diesbezügliche Meldung in Stettin vernommen würde, daran hat die deutsche Schaffnerin ihre Zweifel. Sie spräche keine Polnisch, die polnischen Kollegen kein Deutsch. Vielleicht war es mein Glück, dass jene statt auf die Uhr zu starren, bemerkten, dass sie da noch auf einen eintreffenden Zug warten müssten.
Wie so oft erweist sich die Not als Tugend. Danzig zeigt sich bei strahlendem Sommerwetter von seiner schönsten Seite. Die Übernachtungsmöglichkeit, von Crotos auch schon für diesen Tag in einer Schule organisiert, liegt keine drei Minuten vom Bahnhof entfernt in der Innenstadt. Rund um die Uhr sitzt hier jemand in der Pförtnerloge und öffnet bereitwillig die Tür oder händigt den Schlüssel zur Dusche aus. Dusche! Es gibt eine! Das Wochenende verspricht schon jetzt ein voller Erfolg zu werden.
Die Erste bin ich nicht, als ich meine Isomatte in der Turnhalle ausrollen will. Agnieszka, Kalina und Pawel aus Stettin haben schon einen früheren Zug genommen, um sich Danzig auch noch in Ruhe anzusehen.
Da ich nicht zum ersten Mal in Danzig bin, habe ich nicht vor, lange durch die Gassen der Altstadt zu schlendern, sondern bin froh, dass ich Gelegenheit habe, eine Hamlet-Inszenierung („H”) von Jan Klata vom Teatr Wybrzeze am Originalspielort zu sehen. Um 21 Uhr ist Vorstellungsbeginn auf der Danziger Werft. Gemeinsam werden die am Plac Trzech Krzyzy vorm bewachten Tor versammelten Zuschauer, unter Ihnen der Regisseur des Abends, sowie der bereits wider den Willen des Ensembles abberufene Intendant des Hauses Maciej Nowak, übers Werftgelände geleitet. Man erhält einen Eindruck von der Weitläufigkeit des nunmehr verlassenen Terrains. Unkraut bahnt sich überall einen Weg. Der Spielort, eine Kranhalle, ist nur noch ein ausgehöhltes Gerippe – riesengroß, schmutzig und mit mehreren Ebenen zwischen denen die Zuschauer sich von Szene zu Szene bewegen.
Auf einer überwucherten Schneise zwischen einem stillgelegten Kanal und dem Tor der Halle spielen zwei Gestalten in strahlend weißen Fechtanzügen Golf – Hamlet und Horacio. Dieses „Dazwischensein” zieht sich thematisch durch Klatas Bearbeitung des Stücks. Wie das Publikum stets seines festen Platzes vertrieben wird, so bewegen sich die Figuren in einer surreal-heutigen Welt der Dekadenz auf dem politischen Erbe der „Solidarnosc”, ohne sich in ihrer Freiheit je klar definieren zu können. Der König kennt sich mit den Etiketten edler Weine besser aus, als mit den eigenen Staatsgeschäften und glänzt dafür im Brakedance auf dem Tisch. Als Mahner alter Werte galoppiert der Geist von Hamlets Vater in Husarenuniform auf einem echten Schimmel durch die Halle. Hamlet, ein vor Energie berstender Jungspunt, kämpft mit aller Macht gegen die Machthaber – aber weiß er selber wofür?
„Sein oder Nichtsein” ist schon längst nicht mehr die Frage. Diese taucht auch nur noch im Monolog eines Statisten auf, der mit großer Ernsthaftigkeit versucht, das Ensemble der echten Schauspieler, hier in der Rolle eines Theaterdirektoriums beim Vorsprechen, von seiner Kunst zu überzeugen, aber weniger Anklang findet, als seine weibliche Mitbewerberin, ohne Monolog, dafür im Minirock.
Um die Mordszene mit Gertrud stehen die Zuschauer nur durch eine transparente Gitterwand getrennt auf Tuchfühlung mit den geschundenen Figuren. Dennoch bleibt das Geschaute seltsam ausgeblendet, und wir werden weiter durch die Halle gejagt.
Ein weiteres Opfer dieses haltlosen Lebens schwimmt schließlich im Kanal. Ophelia, eine durchaus tatkräftige Frau, gibt sich verloren. Das halbe Ensemble, mit oder ohne Taucheranzug, springt schließlich wörtlich ins kalte Wasser, um die Kollegin an Land zu ziehen.
Ruhelos und mutig diese Inszenierung des 32-jährigen Jan Klata, der mit einem grandiosen Schauspielensemble den außergewöhnlichen Spielort mit unzähligen Ideen und Effekten zu nutzen weiß, aber auch nur zeigen kann, wie die Welt ist, nicht, wie sie sein könnte.
Ich für meinen Teil habe in diesem Moment nichts Wesentliches an ihr auszusetzen, sondern eile zurück zu meiner Schlafstätte. Da ich der Pförtnerin meine Rückkunft zeitlich angeben musste, habe ich keine Zeit mehr, mich von meinem Stehplatznachbarn in ein Gespräch über die Vorstellung verwickeln zu lassen, auch wenn dieses sicherlich aufgrund meiner begrenzten sprachlichen Möglichkeiten ein baldiges Ende gefunden hätte. Trotz einiger Verspätung erhalte ich gnädig Einlass und unterhalte mich nun statt über Shakespeare, über die viel zu kurzen Schulferien einer in Deutschland lebenden Nichte der Dame mit der Schlüsselgewalt. Ich unterlasse es, darauf hinzuweisen, dass die Ferientage in Polen demnächst auch weniger werden, sondern schleiche mich in die Turnhalle, wo schon die drei Danzig-Erkunder aus Stettin schlafen.
3. Juli 2005 Ein Tag Ostseeurlaub bevor der Ernst des Radfahrens beginnt
Und sie schlafen immer noch, als mich die über Nacht aufs Äußerste gesteigerte Schmerzempfindlichkeit meiner Knochen – und das sind ja sooo viele – keine Sekunde länger auf der Isomatte hält.
Außerdem ist heute Ostseeerkundung angesagt. Vom Anlegesteg vorm „Grünen Tor” legt die „Merlin” nach Hel, einer Halbinsel vor der Danziger Bucht, ab. Es ist ein herrlicher Sommertag, nur das Boot ist überdacht. Nun gut, so sehe ich wenigstens den Danziger Hafen von der Meerseite aus und kann während einer Anlegepause auf der Mole von Sopot spazieren gehen. Diese laut Reiseführer längste Mole im gesamten Ostseeraum ist nämlich von der Stadtseite her nur nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes zu betreten.
Zurück im geschlossenen Boot, bin ich froh, dass ich die Rückfahrt über Sopot mit dem Bus geplant habe, als ich die höflich aber bestimmt an mich gerichtete Frage, ob ich wohl mal zum Kapitän kommen könnte, vernehme. Vor mir steht der Mechaniker der „Merlin”, und eine Mischung aus Neugier und schlechtem Gewissen, mich schon wieder unbewusst irgendwie daneben benommen zu haben, lässt mich aufstehen und ihm folgen. Wieder lohnte es sich, sich zu bewegen. Die Aussicht hier oben in der Kapitänskuppel ist um ein Vielfaches schöner, als vom Rumpf aus. Verbrochen hatte ich auch nichts, bis zu dem Moment, an dem ich kund tat, dass ich nur ein einfaches Ticket gelöst hatte und bei meiner Entscheidung mit dem Bus zurückzufahren bleiben wolle.
Genauso unvorstellbar, wie der ernsthafte Versuch, die polnische Sprache zu erlernen, scheint manch einem zu sein, man/frau interessiere sich tatsächlich vorwiegend für Land und – Städte.
Dabei lohnt die Halbinsel Hel wahrlich, dass man sich für sie interessiert. Herrliche, weite und saubere Strände an der Nordseite entschädigen einen für den ausgedehnten Weg zum offenen Meer.
Nicht nur ich scheine so zu denken. Dass ich in dem Minibus nach Gdynia noch mitgenommen werde, ist ein großes Glück, das durchaus nicht jedem Mitreisewilligen am Straßenrand zuteil werden kann.
Von Gdynia bewege ich mich dann sogleich weiter nach Sopot. Einfach ist es nicht, am späten Nachmittag gegen den Strom der Menschenmassen anzuschwimmen, die gerade vom Strand kommen und nun in die zahlreichen Restaurants und Cafés ausschwärmen. Was für ein Tumult!
Meine Nerven reichen gerade noch für eine Runde durch die Jugendstilviertel rechts und links der Hauptflaniermeile, der ul. Bohaterów Monte Cassino. Dann steige ich in die Regionalbahn nach Danzig.
Hier wälzen sich wiederum Menschenströme die Straßen entlang, diesmal stadtauswärts. Alles zieht über eine Hauptausfallstraße, die sich zudem im Bau befindet und die daher eher nicht für einen Sonntagabendspaziergang geeignet scheint. Das weckt meine Neugier, und ich trabe hinterher.
Attraktionspunkt ist die Bühne auf dem Platz Zebran Ludowych, d.h. weniger die Bühne an sich, als zwei einheimische Popstars und -sternchen: Bartek Wrona, ein relativer Newcomer im Popgeschäft, aber schon Teenieschwarm der letzten drei bis vier Jahre, und Jacek Stachursky, eine wahre Popgröße Polens und sogar international bekannt. Das Konzert beginnt um acht. Es ist bald neun, und die Leute schwärmen unablässig der großen Wiese entgegen, auf der man auch außerhalb des Maschendrahtzaunes gut hören kann. Genaugenommen war das schon einen Kilometer entfernt am Bahnhof möglich. Aber von hier sieht man die Knaben auch noch herumspringen, was die Musik nicht besser macht, aber die Stimmung ankurbeln soll. Bis kurz nach zehn als es mich dann doch wieder in die Turnhalle zieht, hält sich die allgemeine Begeisterung jedenfalls noch in Grenzen. Aber es sind immer noch viele, viele Menschen erst im Anmarsch.
Auch die Turnhalle hat sich inzwischen gefüllt. Ca. 10-15 neu hinzugekommene Isomatten liegen verwaist auf dem Parkett, bis nicht lange nach mir, die Besitzer aus der Kneipe kommen. Unmöglich, da einen Überblick zu bekommen , wer da wer ist, aber wir haben ja schließlich noch drei Wochen Zeit für persönliche Gespräche in voller Fahrt.
4. Juli 2005 (Gdansk – Frombork) Austoben garantiert
Es ist soweit! Ab zehn Uhr morgens versammeln wir uns am Neptunbrunnen mitten auf dem Langen Markt der Danziger Altstadt. Einen markanteren Startpunkt hätte man sich nicht aussuchen können. Zu meiner Verwunderung sprechen mich plötzlich Leute an, die von unserer Tour aus der Presse erfahren haben und nun den „Startschuss” miterleben wollen. Sie sind etwas enttäuscht, kein Fernsehteam vorzufinden. Mich hingegen, die ich auf ein Medienspektakel gar nicht gefasst war, erstaunt es schon, eine Reporterin samt Fotographen hier anzutreffen, dessentwegen wir angehalten werden, möglichst geschlossen vom Markt durch das „Grüne Tor” hinauszufahren. Ein, zwei vereinzelte Radler auf dem Bild, die sich Richtung Osten auf den Weg machen, würden wohl niemanden sonderlich beeindrucken. Aber wir sind derer 24, die hier bei strahlendem Sonnenschein die Stadt verlassen. Ein erhebender Moment.
Schon seit dem Vorabend beschäftigt die Gruppe das Thema „prom oder nicht prom” (Prom = Fähre). Zwei sehr unterschiedliche Strecken, um nach Frombork zu kommen stehen zur Disposition. Die eine ist die kürzere über die Wislana-Halbinsel, die allerdings das Übersetzen mit der Fähre über die Bucht erfordert und somit gleich ein Loch von umgerechnet rund vier Euro in die Reisekasse risse, was der Großteil der Gruppe unbedingt vermeiden will.
Die andere wird uns mit gut 100 Kilometern angekündigt. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass das ein diskussionswürdiges Problem auf einer Fahrradtour darstellen könnte, die insgesamt fast 3000 Kilometer aufs Tacho bringen soll. Aber da ab dem späten Nachmittag unser Begleitfahrzeug (und Gepäckbus) nach und nach die Hälfte der Truppe von der Straße sammelt, war die Sorge wohl berechtigt.
Dabei ist die Strecke über die bewaldeten Hügel bis nach Kadyny und Frombork, an der immer mal wieder das Meer aufblitzt, und über die wenig befahrenen Asphaltstraßen ein Traum für jeden Radfahrer.
Kadyny! Endlich werde ich eines der ehemaligen ostpreußischen Trakehnergestüte mit eigenen Augen sehen. 1898 wurde es als Teil der Sommerresidenz Kaiser Wilhelm II gebaut. Trakehnerblut fließt heute noch in der „Rasa Wielkopolska” (Großpolnische Rasse), deren Zucht sich das staatliche Gestüt seit 1951 widmet.
Die Anlage ist der kaiserlichen Herkunft entsprechend großzügig, aber dennoch ein Schock. Mittlerweile ist der Schlosstrakt zwar vorbildlich restauriert, aber in ein amerikanisches Luxushotel umgewandelt. Das Gros der Pferde steht den Sommer über auf der Weide. Zurückgeblieben sind einige Stuten mit Fohlen, Jährlinge, sowie Privatpferde.
Ein Pfleger führt gerade eine kleine Gruppe Hotelgäste durch die Stallungen. Unauffällig geselle ich mich hinzu. Zweck der Veranstaltung ist allerdings keine touristische Erläuterung der polnischen Pferdezucht, sondern schlichtweg die Vorstellung zum Verkauf stehender Hengste. Für diese, deutlich im Trakehnertyp stehenden, Prachtexemplare hat sich der Gang durch die nicht eben gepflegten und eher dunklen Stallungen gelohnt. Es wäre unvernünftig, mein Fahrrad gleich am ersten Tag der Tour gegen einen jungen Vierbeiner einzutauschen. Daneben fehlt das nötige Kleingeld. Außer mir scheint sich sonst niemand ernstlich für die Tiere zu interessieren, zudem hat die Gruppe durch den langen Aufenthalt schon wieder einen erheblichen Vorsprung, und Kathrin, die sich netterweise bereiterklärt hat, auf die Fahrräder aufzupassen, wartet vor dem Tor. Also trenne ich mich schweren Herzens und schwinge mich wieder auf meinen Drahtesel.
Die letzten zwanzig Kilometer bis nach Frombork vergehen wie im Flug, und vorbei an der mächtigen Festungsmauer um die Kathedrale im Abendlicht erreichen wir unser Nachtquartier. Angenehm gepflegt ist der Rasen am Sportstadion, auf dem wir unsere Zelte aufschlagen. Gleich mehrere Duschen erwarten uns hier.
Etwas müde, aber bester Stimmung treten wir einen ersten Stadtrundgang zur Mole an, wo wir für diesen Tag die Sonne verabschieden.
5. Juli 2005 (Frombork – Lidzbark Warminski)
Der Tag beginnt, wie der letzte geendet hat, mit einer Stadtführung durch den letzten Wohnort Nikolaus Kopernikus. Wieder begleitet uns freundlicherweise unser Gastgeber und Trainer des hiesigen Sportvereins. Diesmal jedoch ist der Kathedralenhof geöffnet. Das Kopernikus-Museum im Bischofspalast gewährt uns einen Einblick in das umfangreiche Werk und Wirken des Astronomen, der nicht nur das bis dahin vorherrschende Weltbild, die Erde stehe im Mittelpunkt des Sternensystems, umstürzte, sondern sich in vielen weiteren Berufen einen Namen machte. Fünfzehn Jahre lang war er Domherr im Fromborker Domkapitelhaus, arbeitete als Arzt, Rechtsanwalt, Architekt, Soldat, hinterließ Abhandlungen zum Münzrecht sowie ein Brotbackrezept.
Bevor die Minderwertigkeitskomplexe überhand nehmen, klettern wir lieber auf den Kopernikus-Turm, der einen atemberaubend schönen Blick über das Haff und das friedliche Städtchen bietet. Die Kathedrale, außen gotisch, innen barock, wird besichtigt, ohne dass wir in den Genuss kommen, der Orgel lauschen zu dürfen, die zu den besten in ganz Polen gehören soll.
Dennoch: Frombork gefällt uns so gut, dass wir erst am frühen Nachmittag, nach einem reichhaltigen Frühstück auf sonniger Café-Terrasse, ausgiebigen Einkäufen und einem für diese Tour letzten Blick auf das Meer, die Stadt verlassen. Schließlich stehen heute knapp 90 Kilometer auf dem Programm, und so ganz den Anschluss an den Rest der Gruppe wollen wir auch nicht verlieren.
Es dauert nicht lange, da stoppt eine neue Attraktion unsere Fahrt. Eine Straußenfarm unweit der Straße weckt unser Interesse. Die originellen, stets um elegantes Auftreten bemühten Vögel sind zutraulicher, als uns lieb ist. Nachdem wir mit jedem Einzelnen ausgiebig, aber vorsichtig, Bekanntschaft geschlossen haben und zahlreiche Portraitaufnahmen den ersten Reisefilm füllen, reißen wir uns auch hier los, ohne uns konkret vorzustellen, was die wahre Bestimmung unserer neuen Bekannten sein wird.
In Pieniezno, dem auf halber Strecke ersten nennenswerten Ort, treffen wir tatsächlich noch einige unserer Mitradler an, verlieren sie aber bald wieder, da es uns zu einem als Skansen ausgeschriebenen Museum landwirtschaftlicher Maschinen zieht. Zum Glück ist der Umweg nicht allzu weit. Hinter einem großen Schild, aus dem hervorgeht, dass die Ausstellung von Geldern der Deutschen Bundesregierung finanziert wurde, verbirgt sich eine überschaubare Sammlung zweier alter Traktoren, sowie einiger verrosteter, wenn nicht hölzerner, Pflüge und Eggen auf freiem Feld in praller Sonne. Nun, wenigstens wissen wir, dass wir nichts verpasst hätten.
Verpasst haben wir auf diese Weise den Einlass in das ethnografische Missionarsmuseum am Ort, mit zahlreichen Mitbringseln örtlicher Missionare, aus zahlreichen Ländern der Welt zusammengetragen. Bis 17 Uhr stand es dem Besucher offen. Um 17.05 Uhr stehen wir vor dem Tor und bemühen uns angesichts der uns noch bevorstehenden Kilometer auch nicht sonderlich, den verdutzten Pförtner um eine Ausnahme zu bitten. Immerhin, das Toilettenhäuschen hat noch nicht geschlossen, was uns in der Situation vielleicht größere Dienste leisten kann, als lateinamerikanische Masken.
Dafür aber lassen wir es uns nicht nehmen, für den reichlich heruntergekommenen Bau des alten Stadtschlosses auch noch den letzten Hügel auf der Strecke zu erstrampeln.
Bald ist Lidzbark Warminski erreicht. Nach einer schnellen Rundfahrt durch die kleine Altstadt kommen wir noch vor Ladenschluss des kleinen „Skleps” neben dem etwas außerhalb gelegenen Sportstadions an, das uns für heute die Möglichkeit bietet, unsere Zelte aufzubauen – und zu duschen! Das Wasser ist schon nicht mehr so ganz warm, wie in Frombork, und auch der Rest hält einem Vergleich nicht stand.
Ein kleines Trüppchen macht sich nach Einbruch der Dunkelheit noch auf den Weg in die Stadt.
Die Motive sind vielfältig. Jakub feiert heute seinen 13. Geburtstag. Monika und Waldek brauchen einen Anschluss für den Laptop, um die Reisechronik rechtzeitig ins Internet zu stellen und so eventuell noch Mitreisewillige zu ermuntern, zu uns zu stoßen. Die Suche nach der Steckdose (poln.”Kontakty”) gestaltet sich in dem verschlafenen Ort als Abenteuer. Keine Kneipe, kein Restaurant scheint hier nach 21 Uhr noch geöffnet zu haben. Zwei junge Männer, die es sich mit einer Dose Bier auf der Parkbank gemütlich gemacht haben, sind gutwillig bereit, zusammenzurücken und uns „kontakty” zu bieten, trauen sich aber kaum, uns ins „Underground” zu schicken, die einzig eventuell noch geöffnete Kneipe.
Mangels Alternative suchen wir dieses Etablissement dennoch auf und finden tatsächlich alles, was wir brauchen: „Kontakty”, Piwo und Wodka sowie eine sichere Abstellmöglichkeit für unsere Fahrräder. Jakub feiert seinen Geburtstag vor dem Spielautomaten, und wird nur noch gesichtet, wenn er den Vater um Münznachschub bittet. Meine volle Konzentration liegt mal wieder auf dem Verständnis der polnischen Sprache, und dank der Überschaubarkeit unseres versprengten Grüppchens habe ich eine echte Chance, an der Unterhaltung teilzuhaben.
Einen weiteren Vorteil hatte unser Ausflug. Zurück am Stadion müssen wir feststellen, dass der Zugang zum WC des nächtens vor uns verschlossen bleibt.
6. Juli 2005 (Lidzbark Warminski – Ketrzyn) Bekannte Wege und Menschen
Der Tag beginnt zur allgemeinen Freude mit einem fürstlichen Frühstück auf einem kleinen Hof ein paar Kilometer hinter Lidzbark Warminski: Frische Milch prosto od krowy (direkt von der Kuh), Honig direkt von der Biene und obligatorisch Rührei. Zu verdanken haben wir diese gelungene Überraschung Waldek, Organisator des polnischen Teils der Tour, der sich hiermit gleichsam eindrucksvoll von uns verabschiedet.
Frisch gestärkt treten wir so die touristisch ausgesprochen attraktive Strecke nach Ketrzyn/Rastenburg an. Reszel, dessen Hauptanziehungspunkt, ein mächtiger Bischofssitz aus dem 14. Jahrhundert, eine Kunstgalerie zeitgenössischer Künstler aus In- und Ausland beherbergt und einen herrlichen Blick über die gesamte Umgebung bietet, ist nur einer der Höhepunkte auf der Etappe. Hier, wie in Swieta Lipka/Heilige Linde, bin ich nicht zum ersten Mal. So begnüge ich mich mit einem erneuten Blick in die prachtvolle Barockkirche und auf deren Dreidimensionalität vortäuschende Ausmalungen.
Da wir in Ketrzyn Quartier beziehen, wo Bekannte meines ersten Masurenaufenthaltes leben, durchradle ich die Strecke etwas eiliger, als an den Vortagen, um wenigstens mal „Hallo” zu sagen, wo ich schon in der Gegend bin.
An unserer Turnhallenunterkunft ist gerade mal der Gepäckbus eingetroffen, also fahre ich ohne Aufenthalt weiter. Nach einem Blick auf die Visitenkarte in meiner Hand frage ich eine Gruppe Taxifahrer vor dem Bahnhof nach der „Ulica Martiany”. Einig sind sich die Herren, dass es sich hierbei nicht um eine Straße, sondern um einen Ort handelt. Weniger übereinstimmend lauten die Entfernungsangaben. Diese schwanken zwischen 12 und 100 Kilometern. Dabei wollte ich doch gar nicht mit dem Taxi fahren. Auf unserer Tagesetappenkarte ist der Ort jedenfalls nicht mehr zu finden. Dennoch zeige ich mich optimistisch und fahre einfach mal in die angezeigte Richtung.
Der starke Feierabendverkehr, die recht hügelige Landschaft, wie die Tatsache, dass ich vor lauter Unternehmungslust vergessen habe, für Wassernachschub zu sorgen, macht die Fahrt nicht gerade zum besonderen Vergnügen. Auch den Gedanken an den Rückweg, den ich im Falle, dass ich vergeblich auf den Klingelknopf von Zygmunt und Krystyna drücke, ja umgehend werde antreten müssen, verdränge ich lieber.
Der Ort ist leicht gefunden, die Hausnummer weniger. Vor einem Geschäft im letzten Winkel des Dorfes beschließe ich dann doch nachzufragen, nachdem ich ohnehin schon in meinem Fahrradlook deutlich als Touristin zu identifizieren, die Aufmerksamkeit der gesamten Bevölkerung erregt habe. Diese Entscheidung erweist sich als äußerst hilfreich. Ich stehe direkt vor dem gesuchten Haus.
Wie befürchtet bleibt mein Klingeln unerhört. Sofort aufgeben möchte ich aber dennoch nicht, sondern verwickele erstmal Kundschaft und Personal des Ladens in ein Gespräch, um Zeit zu schinden. Und tatsächlich: Plötzlich schnellt der Finger der Verkäuferin an mir vorbei. „Dort kommt Pani Krystyna!” Mit zwei Gästen steigt sie gerade aus dem Auto, als ich auf sie zu stürze. Es braucht nur eine Schrecksekunde, bis sie sich glaubhaft freut und mich mit sich ins Haus bittet, wo frischgebackener Kuchen schon auf uns wartet. Na, wenn das kein perfektes Timing ist. Zygmunt kommt kurze Zeit später, und die Überraschung ist perfekt.
Der angekündigte Besuch stammt aus dem Ort, lebt aber seit vielen Jahren in Deutschland. So geht die Unterhaltung munter auf Deutsch und Polnisch durcheinander, und es wird für alle Beteiligten noch ein fröhlicher Abend.
Die selbständige Nachhausefahrt wird mir verwehrt. Stattdessen kutschiert Zygmunt mein Fahrrad und mich zur Turnhalle und Krystyna die Gäste in ihr Hotel. Ebenso herzlich wie traurig verläuft der Abschied. Schließlich hat es fast drei Jahre gedauert, bis mein Weg mich ein zweites Mal durch Masuren führt.
Der späte Kaffee und meine aufgekratzte Stimmung lassen mich lange nicht einschlafen. So habe ich ausgiebig Gelegenheit, der Entwicklung des nächtlichen Schnarchkonzerts in allen Tonlagen, Lautstärken und Intervallen zu lauschen. Nützlich scheint mir, sich gut zu merken, aus welcher Richtung die kräftigsten Stimmen ertönen, um zu wissen, neben wem ich am nächsten Campingplatz mein Zelt nicht aufschlage.
7. Juli 2005 (Ketrzyn – Kalniszki) 1000 Seen und noch mehr Hagelkörner
Am nächsten Morgen hört man aus allen Ecken mehr oder weniger unwillige Kommentare über die nächtlichen Ruhestörer. Wenn man die, die sich beschweren, von der Gruppengröße abzieht, bleibt niemand mehr übrig, der selber geschnarcht haben könnte. Die Rechnung scheint mir nicht ganz aufzugehen.
Als bekennender Pferdefan ist mein erstes persönliches Etappenziel natürlich die staatliche Hengststation des Landgestüts am Ortsausgang von Ketrzyn. Die Anlage wirkt gepflegt, aber verlassen. Die meisten der prächtig gekachelten Boxen stehen leer. Ein paar junge Mädchen reiten die wenigen verbliebenen Hengste. Magda erzählt mir von Blaick und Belar, zwei Kaltblütern des Gestüts, die den Sommer über einen Straßenbahnwagen mit 2 PS durch die Warschauer Innenstadt ziehen. Andere wiederum genießen, wie ihre deutschen Kollegen, ihren Urlaub von der anstrengenden Decksaison auf Sommerweiden.
Auch heute bewege ich mich weitestgehend auf mir bekannten Pfaden. Die „Wolfsschanze”, Hitlers Hauptquartier, von der aus der deutsche Vorstoß nach Osten gelenkt wurde, liegt tief im Wald verborgen. Einige Informationen zum 20.Juli 1944 finden sich hier am Eingang. Ansonsten stapft man zwischen bemoosten Betonruinen der Privatbunker von Göring, Himmler und Hitler entlang. Die Atmosphäre ist düster und feucht.
Anheimelnder hatte es Eva Braun in ihrem kurz davor gelegenen Privatpalast am See. Das hübsche Haus beherbergt seit wenigen Jahren ein Drei-Sterne-Hotel, dessen Ausbau aufgrund der historischen Nutzung des Ortes nicht unumstritten war.
Die von der Familie Lehndorff angelegte Eichenallee nach Sztynort bietet einen unvergleichlich schöneren Anblick. Verwahrlost hingegen, und heute wegen Einsturzgefahr gar nicht meh zu betreten, teilt das Schloss der Grafen das Schicksal anderer Palastbauten im ehemaligen Ostpreußen, deren kostspielige Restauration Kaufinteressenten abschreckt.
Bald verabschieden wir uns von der großen Masurischen Seenplatte und fahren bis Kalniszki, wo wir in einer Gospodarstwo (Hauswirtschaft) agroturystyczne Nachtquartier beziehen, durch den Wald. Eigentümliche weiße murmelgroße Klumpen erregen unsere Aufmerksamkeit. Es ist schwül-warm, und an Schnee ist nicht zu denken. Ein vorausgegangener Hagelschauer scheint plausibler, als eine flächendeckende Streuung von Rattengift.
Die Unterkunft erweist sich mal wieder als Glücksgriff. Die ersten, zu denen ich nicht gehöre, belegen ein eigenes kleines Häuschen mit echten Betten, Fernseher und Hifi-Anlage. Der Rest verteilt sich im noch nicht gänzlich fertig gestellten Dachausbau des Bauernhauses oder stellt sein Zelt in den Garten. Unsere Gastgeber überraschen uns mit einem großzügigen Abendessen und überhäufen den im Hof gedeckten Tisch mit Bigos, Würsten, Pellkartoffeln, Baba ziemniaczana (einer Art Kartoffelkuchen) und Kuchen zum Nachtisch. Ein Badezimmer mit warmer Dusche ist vorhanden, und zum Ausklang des angenehmen Abends sitzen wir ums Lagerfeuer.
8. Juli 2005 (Kaliniszki – Blaskowizna) Nur nichts überstürzen
Früh, aber selbstredend nicht übereilt, brechen wir auf, um in Goldap erstmal ausgiebig zu frühstücken. Ab jetzt bewegen wir uns immer in der Nähe irgendeiner Staatsgrenze. Hier im Norden, kurz vor dem Gebiet Kaliningrad, trifft man auf den Straßen besonders viele Autos mit russischen Kennzeichen.
Der Tag fängt beschaulich an und soll es bleiben. Trotz einer großen Ausgeglichenheit, die sich allmählich meiner bemächtigt, lässt mich das Verhalten nordostpolnischen Verkaufspersonals doch noch hin und wieder stutzen.
Ein Beispiel solcher „Diensteifrigkeit” begegnet mir im örtlichen Sklep von Dubeniki, vor dem wir uns zu einem späten zweiten Frühstück niederlassen. Nicht die Essensbeschaffung ist mein eigentliches Anliegen, sondern ein Hilfeersuchen in anderer Sache. Dennoch bin ich guten Willens, zumindest die obligatorische Banane hier käuflich zu erwerben. Nur: Man lässt mich nicht! Gleich drei Angestellte sind in dem kleinen Lädchen tätig. Tätig? Deutlich ist nur, dass mich niemand zur Kenntnis nehmen will. Eine Dame sitzt unterm Ladentisch und scheint gänzlich unansprechbar, da kaum zu sehen. Die beiden anderen stehen in verschiedenen Ecken und sind sehr konzentriert auf etwas, das sich mir nicht erschließen will. Menschen in hoch komplizierten Gedankengängen aufzuschrecken, scheint mir unfair. Also beuge ich mich über die Theke und suche nach dem Blondschopf unterm Tisch. Um nicht unnötig ihre Zeit zu stehlen, verzichte ich auf die Banane und komme gleich zur Sache. Ob sie denn wüsste, wo hier ein „Badezimmer” sei. Nach der Toilette fragt man in Polen nämlich nicht. Hier sei keines, kommt es zögerlich hinter dem Tresen hervor. Ich beschließe, ihr erstmal Zeit zum Nachdenken zu geben. Und tatsächlich: Nach ein – zwei Schweigeminuten schon ist sie willens, sich mit meinem Problem an ihre Kollegin zu wenden, die erstaunt zu sein scheint, dass da jemand Fremdes in ihrem Laden steht. Wortlos geht sie durch den ganzen Laden zu der dritten Dame, die ebenfalls noch wie versteinert hinter einer Kasse steht und hier vielleicht bemüht ist, die Übersicht über die Einnahmen zu behalten. Viele können es nicht sein. Wortlos wiederum verständigen sich die beiden. Kollegin B geht zu ihrem Ausgangsort zurück, murmelt etwas zu Kollegin A, die wieder unterm Tisch verschwunden ist, nun aber bereitwillig aufsteht und auf das Haus gegenüber weist, das Stadtamt und Toilette verbirgt. Hiermit hätte ich gelernt, dass nicht nur Bewegung, sondern auch Ausdauer zum Erfolg führen kann.
Für die nächste Pause überlassen wir die Fahrräder Pawel zur Aufsicht, der unseren Bus bereits vor der Sehenswürdigkeit des Tages geparkt hat. Stancziki. Ein 40m hohes Zwillingsviadukt ragt hier überdimensional aus der beschaulichen Landschaft am Rande der Puszcza Romincka. Um 1910 erbaut ist es ein aufwendiges Beispiel einer Ingenieurskunst, die nie einen Zweck erfüllte, denn Gleise wurden auf dem als Eisenbahnbrücke konzipierten Bauwerk nie gelegt. Wie dem auch sei, nach einigem Klettern erreichen wir hier einen herrlichen Aussichtspunkt, auf dem sich die Sonne genießen lässt.
Nur noch eine ausgedehnte Eis-Pause gönnen wir uns, bevor wir in gemäßigtem Endspurt durch eine traumverlorene Hügellandschaft unsere Zeltwiese in Blaskowizna erreichen.
Direkt vor unserer Nase liegt der mit 108m tiefste See Polens, der Hancza-See. Die meisten springen noch am selben Abend hinein. Ich kombiniere, dass tiefe Seen mit großer Sicherheit sehr kalt sind und begnüge mich mit dem Anblick des kristallklaren Wassers.
9. Juli 2005 (Blaskowizna – Stary Folwark) Sportlich zur schönen Aussicht
Heute ist Hochleistungssport angesagt. Ein Hoch auf die Konstruktion von Mountainbikes! Leider habe ich keines, sondern schinde mein Fahrrad mit dem schweren Nabenschaltungshinterteil über Stock und Stein, durch tiefen Sand recht steile Berge hinauf. Immer wieder dreht gerade das Hinterrad durch. Immer wieder müssen auch die Füße weiterhelfen. Und wofür das Ganze? Welcher Sportler möchte nicht hin und wieder die Grenzen des eigenen Körpers spüren? Ewa, die für diesen Tag die Streckenführung ausgetüftelt hatte, dachte wohl eher an den Aussichtspunkt in Smolniki. Und wirklich: Vor uns liegt ein verwunschenes Paradies am See zwischen geheimnisvollen grünen Hügeln und Tälern.
Alle Wetten würde ich eingehen, dass selten ein Motiv von uns so ausgiebig fotografiert wurde. Schließlich möchte jeder von dem Lohn unserer Mühen solange wie möglich profitieren.
Der anstrengendste Teil des Tages liegt damit aber auch schon hinter uns, und weiter geht es durch eine fast unwirklich schöne, verschlafene Landschaft.
Weniger verschlafen ist der Campingplatz in Stary Folwark, unserem Quartier für die nächsten zwei Tage. Es wimmelt von anderen Urlaubern, ist laut und nicht unbedingt sauber zu nennen. Die wir doch bisher stets unter uns waren, stehen erstmal unter Schock. Dennoch profitieren wir von der Erfahrung schon länger hier hausender Camper, die einen in Gesprächen im großen Waschraum aufklären, von wann bis wann (morgens und abends jeweils zwei Stunden) es warmes Wasser gibt, bzw. dass man es zu Beginn bestimmt eine Viertelstunde laufen lassen müsse, bevor eine erträgliche Temperatur erreicht sei. Für heute kommt dieser Hinweis zu spät, aber morgen werde ich alles richtig machen.
10. Juli 2005 Ruhetag in Wigry
Es wird gebadet, gepaddelt, gesegelt. Mich lockt das, am anderen Seeufer, malerisch auf einer Halbinsel gelegene, rosarote Kamaldulenserkloster zur Besichtigung.
Das Fahrrad bleibt heute stehen. Vielleicht hat es eine Auszeit nötiger als ich. Die fünf Kilometer um den See übe ich mich im Wandern. Barock im Übermaß erwartet mich. Dafür verlaufen sich hier die Touristen.
Der Papst, Johannes Paul II natürlich, war auch schon da. Man könnte sein Gemach besuchen. Wer hier auf dessen Pfaden wandeln wollte, hätte viel zu tun.
Meine Sache ist das nicht, genauso wenig, wie ein Ruhetag, der einen zum Bleiben verdonnert, wo man doch immer weiter und weiter möchte.
Immerhin, die Wäsche hat Zeit zum Trocknen.
11. Juli 2005 (Stary Folwark – Nowy Dwór) Zu Lande, zu Wasser…
Endlich geht es wieder los!
Die Karten für die heutige Wegstrecke in der Hand radeln wir selbstbewusst neuen Abenteuern entgegen. Da kommt uns nach 5 Kilometern ein anderer Teil der Gruppe aus der Gegenrichtung in die Arme geradelt. Allgemeines Abbremsen und verwirrte Blicke auf die Tagespläne. Es ist schon kurios, wenn man die Leute, die doch dasselbe Ziel haben, plötzlich auf der anderen Straßenseite an sich vorbeiradeln sieht. Noch kurioser ist es, wenn nach ausgiebigem Beratschlagen jeder der Meinung ist, er führe in die richtige Richtung und unverdrossen seinen Weg fortsetzt. Wir jedenfalls haben uns nicht verfahren. Die daraus hervorgehende Zeitersparnis sollte sich noch als Glück erweisen.
Wir waren noch keine zwanzig Kilometer unterwegs, da kommen wir vor einem Sklep mit einer Frau ins Gespräch, die uns begeistert von ihrem Urlaubsdomizil ganz in der Nähe berichtet. Freunde von ihr haben dort ein wunderschönes Haus an der Czarna Hancza. Baden könne man dort, Pferde gäbe es, auch ein Kajak stünde bereit. Bei dem Wort Kajak horcht Kathrin auf und vers au E gl h nachzuhaken. Stanislaw unterbricht sie sofort mit dem Hinweis, wir hätten keine Zeit, wir müssten schließlich noch gut 60 Kilometer mit dem Fahrrad zurücklegen. So geht das ein Weilchen hin und her. Kathrin bleibt am Ball. Stanislaw beharrt darauf, in Eile zu sein. Und auch wenn ich sonst nicht gerade eine begeisterte Wassersportlerin bin, die Behauptung, zu widerlegen, dass hier etwas unmöglich sein soll, reizt mich doch allzu sehr.
Kathrin und ich beschließen, das Forsthaus am Fluss umgehend aufzusuchen. Der Hausherr ist schon vorgewarnt, hält es aber für nötig zu fragen, wann wir denn das Kajak haben wollten. „Na, jetzt!” Nur hätten wir wenig Zeit. Wie lang denn die Strecke sei. 15 Kilometer wären es bis zum Anlegeplatz in Rygol. Mehr als vier-fünf Stunden bräuchte man sicher nicht. Als er unsere entsetzten Gesichter sieht, reduziert er die Angabe auf drei-vier Stunden. Egal, jetzt sind wir schon mal hier, nun wollen wir paddeln. Zudem sind wir der festen Überzeugung, dass ostpolnische Zeitangaben leicht zu unterschreiten seien. Dennoch schlagen wir eine Einladung auf eine Tasse Tee lieber ab. Wir verabreden uns also nach dreieinhalb Stunden hinter der ersten Brücke in Rygol, wo Jerzy das Kajak gegen unsere Fahrräder austauschen will. Sicherheitshalber, wohl für den Fall, dass sich in dem behäbig, friedlichen Flüsschen plötzlich Stromschnellen aufgetan hätten, gibt er uns sein Handy mit an Bord. Das ist wirklich entzückend, nur klingelt es dauernd. Beim ersten Mal nehme ich ab, für den Fall, dass man uns noch weitere Instruktionen geben wolle. Will man nicht. Ich erkläre ganz selbstverständlich, dass sich das Mobilfunkgerät zur Zeit mit uns übers Wasser bewege und der Besitzer in ca. drei Stunden wieder zu sprechen sei. Um jenen nicht unnötig zu blamieren, überhöre ich ab sofort jedes weitere Klingeln. Außerdem müssen wir uns konzentrieren. In olympiareifen Tempo sausen wir um die zahlreichen Biegungen, schlüpfen unter Bäumen hindurch, ruckeln das Gefährt über Stämme an der Wasseroberfläche, einigen uns in Sekundenschnelle, ob links oder rechts am Hindernis vorbeizupaddeln sei. Dann wieder schmeißen wir die Paddel hin und lauschen der Stille. Die Fotoapparate werden hervorgeangelt. Kathrin badet. Soviel Zeit muss sein.
Als wir Rygol erreichen und an Land klettern sind zwei Stunden um. Jetzt bräuchten wir nur noch unsere Fahrräder. Problem Nr.1: Das Handy hatte sich ausgeschaltet und ist durch einen PIN-Code blockiert. Problem Nr. 2: Als uns ein netter Helfer aus dem Ort sein Handy zur Verfügung stellt, hat offenbar gar keiner darauf gewartet, die zwei irren Deutschen früher als verabredet aufzusammeln. Nun, wir haben uns bemüht, und finden uns auf dem idyllischen Bootssteg leicht mit unserem Schicksal ab. Wir warten.
Pünktlich, wie verabredet um 17 Uhr erscheint Jerzy. Die Fahrräder werden ab-, das Kajak aufgeladen. Adressen werden ausgetauscht. Sollte man demnächst etwas Dringendes in Litauen oder Weißrussland zu erledigen haben, man käme unweigerlich an jenem Forsthaus vorbei.
Die Sonne steht schon ziemlich tief, immer noch sind wir unserem Ziel nicht wesentlich näher gekommen, aber das erste, was uns einfällt, ist, im nächsten Ort eine kleine Pause einzulegen und uns ein Eis zu genehmigen. Nun lohnt es sich ja auch wahrlich nicht mehr, sich abzuhetzen.
Die letzten Gymnastikmatten in unserer Turnhallenunterkunft werden bereits vergriffen sein, Duschen soll es ohnehin keine geben. Wozu sich also jetzt noch beeilen?
Die Landschaft ändert sich hier radikal. Was bisher noch touristisch erschlossen war, erscheint uns plötzlich als das Ende der Welt. Die Dörfer werden ärmer, grauer. Kühe werden an uns vorbei getrieben. Die letzte Asphaltstraße liegt weit zurück.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit, allerdings auch kurz vorm Ziel, treffen wir doch tatsächlich noch auf ein paar Versprengte unserer Truppe. Familie Konczak hatte sich verirrt und fragte gerade in einem Bauernhaus nach dem rechten Weg. Na, waren die nicht Teil der Neunmalklugen, die uns schon am Morgen nicht vertrauen wollten? Müde, aber glücklich erreichen wir nun gemeinsam als Letzte die Turnhalle. Personelle Verluste gab es auch sonst keine. Und Duschen – die gibt es auch!
12. Juli 2005 (Nowy Dwór – Kundzice)
Angekündigt hatte sich meine Erkältung ja schon am Vortag. Heute aber hat sie mich fest beim Wickel. Ausgerechnet heute ist die Strecke alles andere als ein Zuckerschlecken. Von Asphalt keine Spur. Und warum sind alle Schotterpisten Ostpolens mit diesen eigenartigen Querrillen versehen, die einem sämtliche Knochen durcheinander schütteln? Es kommt noch schlimmer: Kopfsteinpflaster, natürlich aus unbehauenen Natursteinen, ist der vorherrschende Belag.
Die Sonne brennt auf die eintönigen Straßen. Im Schneckentempo schleppe ich mich durch die öde Landschaft. Einige Windmühlen, noch dazu ohne Flügel, sind hier die einzige Attraktion. Nach Reden ist mir ganz und gar nicht zumute, schon gar nicht auf Polnisch. Sorgsam darauf bedacht, jede überflüssige Anstrengung zu vermeiden lasse ich die Gruppe davonfahren. Ein paar Leute treffe ich in Krynki noch an. Durch die bergige Lage der Stadt muss ich hier erstmal eine ausgiebige Erholungspause einlegen.
Wieder allein trete ich die letzte Touretappe an. Immer noch ist es heiß. Bremsen umkreisen mich wie Geier das sterbende Vieh. Das macht Mut.
Und hätte mir nicht ein Bauer, der wohl schon 25 Leute vor mir hat vorbeiradeln sehen, von sich aus den richtigen Abzweig gewiesen, ich suchte vielleicht heute noch nach dem kleinen Bauernhof, wo alle anderen Zelte bereits aufgebaut waren.
Ein reiches Abendessen und gleich zwei Duschen werden uns hier offeriert. Dann ruft das Zelt.
13. Juli 2005 (Kundzice – Bialowieza)
Heute ist mir alles egal! Man dürfte mich auch hier vergessen. Die Nacht habe ich knapp überlebt. Dafür habe ich Fieber und keine Stimme.
So wird das Fahrrad neben dem Gepäck im Bus verstaut. Pawel fährt an den auf der Strecke gelegenen See. Ich schlafe hier vier Stunden, und irgendwann sind wir in Bialowieza.
Punkt für diesen Tag.
14. Juli 2005 Ruhetag in Bialowieza
Es geht wieder aufwärts! Heute halte ich es für ein Glück, dass wir einen Ruhetag einlegen, so dass alles ganz gemächlich angeht. Am Vormittag ist Großwaschtag. Überall durch die Schlaf-Klassenräume sind Wäscheleinen gespannt.
Alle naselang ruft jemand durch die Flure, um 12 Uhr hätten wir eine Führung durch den Nationalpark. Keiner der Informanten hat eine Ahnung, wo der Treffpunkt ist. Aber pünktlich um zwölf schlurfen von allen Seiten Besichtigungswillige heran. Gemeinsam schlendern wir die fünfzig Meter bis zum Eingang des Nationalparks. Schon laufen zwei zurück, um noch etwas einzukaufen. Ein Teil der Gruppe wartet, ein anderer Teil spaziert weiter, was dazu führt, dass wir fast eine Stunde brauchen, um wieder zueinander zu finden.
Den Rest der Gruppe hätten wir gefunden, aber ein Führer ist nicht in Sicht. Stattdessen ist plötzlich allen klar, dass eine geführte Wanderung durch das Reservat ja auch viel zu teuer sei.
Meine Verständnisschwierigkeiten sind diesmal nicht sprachlicher Natur, denn keiner kann mir erklären, warum man das denn nicht vorher gewusst hat. Nun, der Tag ist halb vorbei, und um überhaupt noch etwas zu sehen beschließen wir einen Besuch im Wisent-Reservat.
Der weltberühmte Nationalpark Bialowieza, der aus aller Welt Touristen anzieht, muss auf unseren Besuch nun leider verzichten.
Wir gehen in den Zoo! Immerhin, der Weg führt durch den Wald und ist für Menschen mit angeschlagener Gesundheit auch viel angemessener, als so eine Tageswanderung durch den Urwald.
Die Tiere halten Mittagsschlaf.
Wenigstens die Wisent-Eltern stehen aufrecht, während eine Besucherschar mit Fotoapparaten vor dem Gehege darauf wartet, dass sich das Kalb erhebt. Das tut es dann auch. Damit wäre der Höhepunkt des Tages auch schon erzählt. Die meisten Tiere haben sich ein so geschickt gelegenes Plätzchen für ihre Siesta ausgesucht, dass man sie nicht sieht. Nur die Wildschweine liegen aufgereiht wie die Perlen an der Schnur in der Sonne. Die Wildschweinfamilie neulich im Grunewald in Berlin war deutlich munterer – und da war kein Zaun drum herum.
Wir haben eben alle Ruhetag.
Erst abends werden wir wieder lebendiger. Da wir diesmal nicht die Turnhalle der Schule mit unseren Schlafsäcken belegen, steht einem Volleyballspiel nichts im Wege. Nun – wenn man die sportlichen Ansprüche nicht zu hoch schraubt, haben wir alle einen riesen Spaß – bis – noch mitten in der Nacht eine große Gruppe Jugendlicher anreist, die sich in der Halle breitmachen und drohen, die Duschen auf unabsehbare Zeit zu belegen.
Es ist das erste Mal am Tag, dass wir uns richtig beeilen.
15. Juli 2005 (Bialowieza – Siematycze) Begegnungen
Die Gruppendynamik des gestrigen Tages reicht mir fürs Erste. Ohne eine konkrete Vorstellung zu haben, wie denn der Weg so genau zu finden sei, fahre ich alleine ins Blaue hinein. Hauptsache in Bewegung bleiben. Natürlich dauert es nicht lange, da treffe ich die ersten Verirrten an einer Kreuzung mitten im Wald. Ohne eine Neigung zu verspüren, über den Streckenverlauf zu diskutieren, fahre ich einfach weiter, um bald darauf auf die Nächsten zu stoßen. Das gibt ein sicheres Gefühl. Man hat sich immerhin nicht alleine verfahren.
Bald aber gewinne ich großes Zutrauen in die gewählte Strecke, fahre zügig und bin der festen Überzeugung, als Erste am Treffpunkt in Kleszcele anzukommen. Dort sollen wir uns um 12.30 Uhr einfinden, da wir einen Termin mit dem Polnischen Fernsehen haben. Also doch.
Wie es möglich ist, dass ich erst weit nach ein Uhr und als Allerletzte dort einlaufe, wo alle schon um den Bus herumsitzen und picknicken, werde ich nie begreifen. Es war vielleicht doch nicht die kürzeste Route.
Immerhin bin ich dort und das Fernsehen nicht. Besser als andersherum, wie ich finde.
Mittlerweile sind auch zwei Fahrräder fast wieder neu zusammengebaut. Nun gut, Bartek scheint das Seine gewohnheitsmäßig auseinander zu nehmen. Aber Agnieszka hatte ernste Probleme mit der Schaltung. Wie praktisch, dass Ania und Ela heute Abend aus Warschau anreisen und das passende Ersatzteil gleich mitbringen können.
Plötzlich registriere ich, dass Bartek, der heute für die Streckenführung verantwortlich ist, ständig irgendetwas von „November” erzählt. Ich denke noch, wieso ist das jetzt hier so aufregend, wo das noch so lange hin ist, und höre nicht weiter zu. Grober Fehler, der einem als Nicht-Muttersprachler nicht unterlaufen sollte, wie sich später herausstellt.
Während sich ein Teil der Gruppe wieder in Bewegung setzt, um as örtliche Schwimmbad aufzusuchen, erwäge ich eine Besichtigung der hübschen orthodoxen Kirche. Sie ist geschlossen. Macht nichts. Aber ein Foto von außen soll’s schon sein.
Hinter mir tritt eine Frau mit einer Sense aus dem Haus und verschwindet im Garten der Nachbarn. Gerade als meine Aufnahme im Kasten ist, taucht sie, zum Glück ohne Sense, wieder auf und redet auf mich ein. Vor Schreck verstehe ich erstmal gar nichts, was die Frage nach meiner Herkunft provoziert. Ach, ihre Tochter lebe auch in Wien – ist ja fast dasselbe, wie Berlin – aber sie selber spräche nur wenig Deutsch: „Eins, zwei, drei, vier”, „Tochter”, „Mann”. Ob ich nicht zum Kaffee bleiben wolle. Nun gut, die Sense liegt in Nachbars Garten, und jegliche Eile habe ich mir ohnehin abgewöhnt.
Ich erfahre so einiges über ihre hochbegabte, umfassend gebildete Tochter, die leider wegen eines ihr weit unterlegenen Bauarbeiters, ebenfalls polnischer Herkunft, nach Wien gezogen sei. Nun habe sie auch eine Enkelin, aber die Tochter käme wohl nie mehr zurück nach Polen. Meine Frage nach Familienfotos wird natürlich begeistert aufgegriffen. „To ciórka!” (Das ist meine Tochter.) „To wnuczka!” (Enkelin), „To ja we Wiedniu!” (Das bin ich in Wien.), „Ciórka!”, „Wnuczka!”… geht es weiter, und bei jedem „Wnuczka!” hebt sich ihre Stimme um eine Oktave. Ob sie sich denn nicht vorstellen könne, zu ihrer Tochter nach Wien zu ziehen, scheint mir eine schlüssige Frage. Aber nein, sie habe hier dieses Haus, mitten im Zentrum und nette Nachbarn. Man kann das verstehen, auch wenn Kleszczele am äußersten Rand Polens liegt und mit dem Fahrrad in fünf Minuten durchfahren ist. Die schmucke, weiß getünchte rechtslawische Kirche mit den blauen Kuppeln, die da so friedlich in der Sonne auf dem Dorfplatz liegt, wollte ich auch nicht eintauschen gegen die durchaus prächtige und viermal so große Cerkiew (rechtslawische Kirche) an der belebten Kreuzung auf dem Foto in Wien.
Meine Gastgeberin betont bei jeder Gelegenheit ihre Gläubigkeit. Der einzige Unterschied zwischen Katholizismus und Rechtgläubigkeit , der ihr einfallen will, ist der, dass bei ihnen die Messe auf russisch gehalten wird. Ihr Vater sei eben aus dem heutigen Litauen und habe die Religion von dort mitgebracht. Nun, vielleicht traut sie mir ein tieferes Verständnis auch sprachlich nicht zu. Denn, obwohl wir uns bestimmt eine Stunde unterhalten, vergewissert sie sich nach jedem Satz, ob ich denn auch verstünde.
Wenn ich das nächste Mal nach Kleszczele komme, man kann ja nie wissen, bin ich jedenfalls herzlich eingeladen.
Weiter geht’s über die Dörfer Richtung Siematycze. Dasze ist ein regelrechtes Bilderbuchdorf. Malerisch liegt es jetzt am Nachmittag in der Sonne. Ich hoffe darauf, die Stimmung dieser Gegend endlich fotografisch festhalten zu können. Motive gibt es genug. Nur steht vor wirklich jedem Haus eine Bank, und um diese Zeit sitzt aber auch jeder Dorfbewohner auf eben jener Bank vor seinem Haus. Jetzt abzusteigen und die Kamera aus dem Rucksack zu holen, verbietet mir mein Taktgefühl.
Weit verstreut liegen einzelne Höfe am Wegesrand. Vor einem wird es plötzlich laut. Eine Hifi-Box beschallt die nähere Umgebung mit der polnischen Hitparade. Und: Der Bauer tränkt seine Pferde, die mit donnernden Hufen herbeistürmen. So viele Turbulenzen an einem Ort lassen mich natürlich anhalten und das Schauspiel verfolgen. Wie der Hofherr beobachte ich die Tiere, die trotz aller Vorfreude sich nun nicht an die Wassereimer heranwagen. „Sie haben Angst vor dem Strom”, erklärt mir ihr Besitzer. Auch die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Tieren sind schnell dargelegt. Dann interessiert ihn, was mich denn so alleine in diese Gegend verschlägt. Was es denn hier zu sehen gäbe? Warum ich denn ausgerechnet Polnisch spräche? Und ob die deutschen Fahrradwege denn nicht viel besser seien? Hier seien die Wege doch ganz besonders schlecht. Meine Erinnerung an die vergangenen Tage lässt mich Letzteres entschieden verneinen. Aber Argumente, die allen Ernstes jemanden, der sich Tag für Tag mit der schlechten Infrastruktur dieser Gegend, den weiten Wegen bis zum nächsten Markt, der Trockenheit im Sommer und anderen Widrigkeiten auseinandersetzen muss, überzeugen, dass es ein besonderes Vergnügen sei, hier seinen Urlaub auf dem Fahrrad zu verbringen, habe ich nicht.
Auch unsere Bedürfnisse das Wetter betreffend sind unterschiedliche. Mit Blick auf die vertrockneten Wiesen um sein Haus wünsche ich ihm ab morgen Regen, der sich aber bitte ab Siematycze wieder zurückhalten möge. (Dies war sehr leichtfertig von mir. Leider verlief die Schlecht-Wetter-Grenze am nächsten Tag sehr unscharf, und der Regen gab auch uns einige Tropfen mit auf den Weg.)
Kaum fahre ich weiter, verstehe ich auch schon seine Unzufriedenheit mit den örtlichen Straßenverhältnissen. Als ich die Asphaltstraße erreiche, auf der die letzten 20 Kilometer nach Siematycze sicher im Nu zu bewältigen sind, lasse ich mich erstmal vor einer Bar in der Abendsonne nieder, um meine durchgeschüttelten Glieder zu sortieren.
Es dauert nicht lange, da vernehme ich ein Fahrradklingeln hinter mir, und Kathrin biegt um die Ecke. Ein Landwirt habe gerade versucht, sich mit ihr über die Tour von Danzig nach Odessa zu unterhalten.
Gemeinsam starten wir zum Endspurt.
Bis kurz vorm Ziel ein Hinweisschild auftaucht: Grabarka 4 km. „Da muss ich hin!”, rufe ich und biege ab. Kathrin, spontan von dem Umweg überzeugt, fährt hinterher.
Grabarka, Nonnenkloster und Pilgerzentrum der orthodoxen Gläubigen, liegt auf einem Berg mitten im Wald. Eine große Mauer schottet es ab, seit 1990 die Holzkirche des Klosters einem Brandstifter zum Opfer fiel. Die heilige Quelle, deren Wasser die Abwendung einer Choleraepidemie im 18. Jahrhundert zugesprochen wird, ist frei zugänglich vor dem Klostertor am Parkplatz gelegen. Von einem Pilgerandrang ist heute Abend hier nichts zu spüren. Außer uns spazieren noch drei andere Touristen mit dem Fotoapparat durch den Wald tausender Holzkreuze vor der kunstvoll wieder aufgebauten Cerkiew. Pilger haben sie hierher getragen. An jedem Kreuz haftet ein Wunsch, ein Gebet, ein Dank. Der Ort ist eine Oase der Ruhe und Friedlichkeit. Fünf, sechs Nonnen in Alltagskleidung, langem Rock, Bluse und Kopftuch in allen Farben genießen den Sommerabend auf den Bänkchen vor dem Wohnhaus. Die Gesichter sind überwiegend jung. An Touristen scheinen sie gewöhnt zu sein. Niemand schenkt uns besondere Beachtung.
Hier wollte man bleiben.
Aber es wird bald dunkel, und wir wissen noch nicht mal, wo wir heute Nacht unser Lager aufschlagen. Über eine holperige Schotterpiste, die uns jeden der heutigen schon zurückgelegten 100 Kilometer deutlich ins Gedächtnis zurückruft, erreichen wir Siematycze. Aufmerksam wird jeder Garten nach Zelten, jede Einfahrt nach einem weißen Bus und die Straßen nach Fahrradfahrern abgesucht. Nichts! Wir sind schon fast wieder aus der Stadt herausgefahren, als mein Blick auf ein Straßenschild fällt: „Straße des 11. November.” Gerade noch rechtzeitig macht es „Klick” in meinem übermüdeten Hirn, und mir fallen Barteks aufgeregte Mahnungen irgendeinen Novembertag betreffend wieder ein. Vielleicht hätte ich doch lieber etwas genauer zuhören sollen. Nun aber müssen wir ja nur noch diese eine Straße nach unserer Schlafstätte absuchen.
Fast am Ortsausgang vor dem Haus der polnischen Pfadfinder inmitten bereits aufgeschlagener Zelte steht er dann – der Bus mit unseren verwaisten Schlaf- und Rucksäcken.
16. Juli 2005 (Siematycze – Gnojno) Wir erreichen den Bug
In neuer Besetzung aber auf bekanntem Weg, der Kathrin und mir vom Vorabend noch in schlimmster Erinnerung ist, macht sich die Gruppe heute als erstes auf nach – Grabarka.
Ania, Ela und Aga sind gestern Abend spät aus Warschau angereist und übernehmen für die nächsten drei Tage die Führung der herrenlosen Herde. Das Ersatzteil für Agnieszkas Schaltung haben sie weisungsgemäß im Gepäck. Auch Michael aus Deutschland erscheint plötzlich vor dem Pfadfinderhaus. Dafür verabschieden sich Basia und Jacek, deren Urlaub zu Ende geht.
Das Kloster liegt jetzt nicht mehr so friedlich da, wie gestern im Abendschein. Der Parkplatz ist voll, und den Weg zur Kirche wälzen sich Touristen und Pilger gemeinsam bergauf.
Auf die Besichtigung der heiligen Stätte müssen wir etwas warten. Im starken Widerspruch zur Mystik des Ortes steht zwischen den Ikonen und Kerzen gerade Hausputz an. Die uns schon bekannten Gesichter haben heute einen geschäftigen Ausdruck. Auf den Knien krabbeln die Damen zwischen Leuchtern und Altar, saugen und wischen Staub. Draußen wird gefegt, die Teppiche geklopft, der Garten bearbeitet. Nur beschaulich und der inneren Erleuchtung gewidmet ist so ein Klosterleben also keineswegs. Als die Pforte sich dem Besucher öffnet, müssen wir uns nur noch kostümieren. Meine Radlerhosen sind lang genug, die Regenjacke ist griffbereit, und das obligatorische Kopftuch wird uns am Eingang überreicht. In dem Aufzug will sich allerdings ein Gefühl von tieferer Einkehr nicht so recht einstellen.
Gemeinsam nehmen wir Kurs auf Mielnik, wo uns eine kleine Fähre über den Bug setzen soll. Plötzlich stoppt die Fahrt abrupt, ohne dass jemand so recht weiß wieso. Von hinten nach vorne geht die Frage, was denn passierte sei. Von vorne nach hinten kommt die Antwort: „Ein Storch!” Unser Neuzugang aus Deutschland hatte seine erste Begegnung mit diesem Vogel. Dem Rest der Gruppe fehlte für diese Beachtung nun völlig das Verständnis. Seit zwei Wochen umgeben uns hier die Störche wie in Berlin die Spatzen, und nun soll man deswegen die Bremsbeläge strapazieren. Alles eine Frage der Perspektive.
Und dann liegt er vor uns – der Bug, der uns noch eine lange Zeit begleiten wird auf unserer Fahrt an der weißrussischen und ukrainischen Grenze entlang. Breit ist er hier nicht, schnell auch nicht, aber schön.
Ein großes Floß am Stahlseil schippert uns auf die andere Uferseite. Die Regenjacken dienen jetzt nicht mehr nur dem Anschein religiösen Feingefühls. Das strahlende Hochsommerwetter hat uns verlassen. Einige Unerschrockene suchen dennoch das Schwimmbad auf.
Wir erwägen eine Kajakfahrt auf dem Bug. Leider ist es dazu schon zu spät, aber wir nutzen das Gespräch mit den interessierten Bootsverleihern zu einer ausgiebigen Werbekampagne für unsere Tour. Wie gut, wenn man jederzeit ein paar Flyer mit sich führt.
Unser gastgebender Bauernhof ist heute schnell gefunden. Gerade rechtzeitig komme ich, als der Hofherr eine kleine Ponystute mit deutlicher Tarpanabstammung sattelt. Nach einem gemächlichen Radfahrtag haben einige noch genug Energie, es mal mit dem Reiten zu versuchen. Das Tierchen zeigt sich hiervon wenig erfreut, weiß sich aber ebenso wie sein nicht wesentlich kleineres Fohlen sehr selbstbewusst zur Wehr zu setzen: Die Mutter durch Totalverweigerung, die Tochter durch beharrliches Knabbern an Reiterwaden. Trotzdem gelingt es einigen immer wieder, das Pferdchen in einen fleißigen Trab zu versetzen, und nach einer Stunde sind alle zufrieden. Wir dadurch, etwas Neues ausprobiert zu haben, das Pony, uns dann auch wieder los zu sein.
17. Juli 2005 (Gnojno – Kostomloty)
Pferde sind auch heute das beherrschende Thema. Das berühmteste und älteste staatliche Gestüt Polens liegt auf unserer Strecke: Janów Podlaski. Die 1817 gegründete Zucht widmet sich in erster Linie dem reinen arabischen Vollblut sowie des Angloarabers.
Kaum haben wir die Menschenströme, die sich dieses Sonntagmorgens die Dorfstraßen entlang zur Kirche bewegen, hinter uns gelassen, stehen wir vor riesigen Pferdekoppeln mit hunderten von Tieren. Hauptsächlich Jährlinge und Stuten mit Fohlen genießen hier nahezu ungehinderte Auslaufmöglichkeiten. Die Stallungen sind fürstlich, wie es den edlen Tieren gebührt. (Für die Stute „Elandra” aus hiesiger Zucht, wurde kürzlich der Rekordpreis von 290000 Euro erzielt.)
Uns wurde angekündigt, desöfteren träfe man vor Ort den ein oder anderen Scheich beim Pferdekauf. Ein Grund mehr, sich hier ein Weilchen aufzuhalten.
Aber auch nach gründlicher Umradelung der riesigen Anlage samt Futtersilos, ließ sich kein liquider Herr auftreiben, der willens schien uns einen der in dieser Rasse besonders zahlreich vertretenen Schimmel zu übereignen, auf dem wir unsere Reise hätten fortsetzen können.
Pferdehufe wären sicherlich unbeschwerter durch den teils recht tiefen Sand gekommen. Aber dank der ebenen und idyllisch weiten Landschaft und dem wieder wohlwollenden Wetter gelangen wir auch so bester Laune mitten durch Mais- und andere Felder nach Terespol, von wo aus Weißrussland in Sichtweite liegt.
Ohne den Grenzübergang krähte wohl kein Hahn nach dieser Stadt. Und auch heute krähen hier nur die Lautsprecher eines Bierfestes durch die verlassenen Straßen.
Unser einziger Anspruch an den Ort, ein geöffneter Laden in dem wir unser Abendessen erstehen können, ist erfüllt und bald setzen wir unsere Fahrt nach Kostomloty fort.
Unsere Zelte stehen heute Abend auf dem Gelände einer unierten Gemeinde. Die kleine Cerkiew lädt zu einer ersten Besichtigung ein, eine Jugendgruppe singt unermüdlich Kirchenlieder und ein kurzes Konzert eines Folkloreensembles wird uns auch noch geboten – nicht zu vergessen: Es gibt gleich zwei warme Duschen!
18. Juli 2005 (Kostomloty – Okuninka)
Ausgeschlafen fühle ich mich heute nicht, als wieder mal ab sechs Uhr früh viertelstündlich in allen umliegenden Zelten die Wecker und Handys klingeln, ohne dass dem außer mir irgendjemand Beachtung zu schenken scheint.
Passend zur eher beschaulichen Stimmung des Ortes, erhalten wir morgens erstmal einen, in feierlichem Flüsterton gehaltenen, Vortrag vom örtlichen Priester über die Geschichte der Cerkiew und der orthodoxen Kirche im Allgemeinen.
Gleich im ersten Ort, Koden, halten wir wieder an einer Kirche. Pflichtbewusst werfen wir einen Blick hinein. Aber ganz ehrlich gesagt sind wir hier, weil Ania und Ela uns den heißen Tip gegeben haben, in der Cafeteria hinter dem sakralen Monument gäbe es hervorragenden Baumkuchen. Alles hätte ich hier erwartet, nur das nicht. Er schmeckt tatsächlich phantastisch und sollte dringend in jeden Reiseführer aufgenommen werden!
Den nächsten „religiösen” Höhepunkt lieferte uns dann das Kloster von Jableczna. Es ist das älteste orthodoxe Kloster Polens, direkt am Bug gelegen. Ein Bildnis des heiligen Eunufrius soll hier angeschwemmt worden sein. Ungewöhnlich für jemanden, der doch sein Leben in der ägyptischen Wüste verbracht hat. Ihm zu Ehren wurde dann im 15. Jahrhundert eine kleine Kapelle direkt am Flussufer gebaut, in der die Ikone aufbewahrt wurde. Ein wenig oberhalb entstand das Mönchskloster, in dessen Kirche wir das kostbare Kunstwerk heute betrachten können, da das Haupttor zwar vergittert ist, aber offen steht. Kein Mönch lässt sich blicken. Und auch sonst sind wir gerade die Einzigen, die sich für die schmucke, fast künstlich wirkende Anlage interessieren. Der obligatorische Souvenirshop weist darauf hin, dass das durchaus nicht immer so sein mag.
Bei Wlodawa erreicht der Bug, aus der Ukraine kommend Weißrussland. Wir machen es umgekehrt und kommen damit dem Ziel unserer Reise einen wesentlichen Schritt näher.
Die kleine Stadt ist seit langem die erste, die diesen Namen verdient. Auch hier werden uns eine Synagoge und sehenswerte Kirchen geboten, aber die meisten schwärmen aus, auf der Suche nach einem Bankomaten oder einem Internetcafé.
Nur noch knappe 10 Kilometer sind es von hier bis zu unserem Zeltplatz in Okuninka. Da sich gerade die Sonne einen Weg durch die Wolken gebahnt hat, lege ich, von einer Kuhherde auf der Straße ohnehin in meiner Fahrt gebremst, einen Schreib- und Leseaufenthalt an einem kleinen, künstlich angelegten See ein. Irgendwann muss man schließlich auch im Urlaub seine Pflichten erfüllen. Es ist Abend, als ich beschließe, nun doch den Rest der Tagesetappe zurückzulegen. Schnell soll es gehen, denn jetzt will ich nur noch ankommen. Da habe ich mich das erste Mal verfahren und lande in Sobibór, in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers, auf dessen Gelände heute nur noch ein kleines Museum zu finden ist. Hier wollte ich aber nun nicht hin, schon gar nicht außerhalb der Öffnungszeiten. Diese unnötigen zehn Kilometer durch den Wald hätten mich eigentlich lehren sollen, besser die Karte zu studieren. Aber, da mich mein Orientierungssinn bisher zweieinhalb Wochen nicht im Stich gelassen hat, fahre ich unbeirrt wieder den mir am wahrscheinlichsten erscheinenden Abzweig entlang, bis mich tiefster Sand stoppt, in dem sich zudem bedenklich wenig andere Fahrradspuren abzeichnen. Bald auf dem richtigen Weg, zweifle ich jetzt aber, ob dieser auch dorthin führt, wo mich mein Zelt erwartet. Es ist schon etwas düster, und die weiß-gelben Markierungen zeichnen sich nicht eben deutlich von den Bäumen ab.
Plötzlich bin ich da – in Okuninka, erleichtert und dennoch erschrocken. Mitten im Wald erwächst hier eine Touristenhochburg am See. Bars, Cafés, Geschäfte, Diskotheken und jede Menge Campingplätze liegen hier auf einem Haufen. Wie ich zwischen all diesen Zelten, Autos und Menschen unsere Gruppe ausfindig machen soll, ist mir schleierhaft. Irgendwie scheint mir der Zeltplatz auf der Karte in der Mitte des Sees eingezeichnet zu sein. Ach was, Karte! Das Ding muss doch auch so zu finden sein. Ich steuere also den nächstbesten Campingplatz an und – siehe da! – unsere umsichtigen Tourenleiterinnen hatten schon eine Nachricht am Tor befestigt, auf dem noch einmal der Name unseres Zeltplatzes stand. Die umstehenden Parkplatzwächter haben leider keinen blassen Schimmer, wo der auf dem Zettel angeführte Platz zu finden sei. Wenn ich ein bisschen am See längs fahre, denke ich, werde ich sicherlich bald dort vorbeikommen. Bald ist relativ.
Das Zentrum füllt sich mit tanzfein hergerichteten Menschen, unter denen sich kein bekanntes Gesicht zeigen will. Dafür nimmt die Zahl an Vergnügungsmöglichkeiten und leider auch der Campingplätze in meiner Fahrtrichtung deutlich ab. Als ich mich bald nahezu alleine auf der inzwischen dunklen Straße befinde, überkommen mich Zweifel, ob ich nicht vielleicht doch schon vorbeigefahren sei. Aber auch der Rückweg ins Dorfzentrum ist nicht ergiebig. Hier frage ich noch mal und noch mal und noch mal, und stoße beim vierten Mal tatsächlich auf jemand Ortskundiges. „Oh Gott! Das ist ganz am anderen Ende. Einmal um den See herum.”, und weist mir den Weg in die Richtung, aus der ich gerade komme. Hätte ich gleich beim ersten Versuch ein klein wenig Geduld bewiesen, ich wäre nach zwanzig Metern auf unseren Bus gestoßen, zu einer Zeit, als man ihn von der Straße aus noch hätte erkennen können. Jetzt ist es stockfinster, als ich plötzlich, teils feixend, teils besorgt, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werde.
Gut, dass das Zusammenbasteln des Zeltes inzwischen so geübt ist, dass ich auch im Dunkeln jede Heringsschlaufe mühelos finde.
19. Juli 2005 (Okuninka – Krasnystaw) Fernsehinterview in Chelm
Der Tag beginnt mit einer weiteren Ehrenrunde um den See. Die Tourenleitung hat gewechselt, und Asia lässt einen sofort spüren, dass Nachfragen eher unerwünscht ist. Die Karten werden auch undeutlicher, aber so viel Polnisch meine ich mittlerweile gelernt zu haben, dass ich die Aussage, „Es ist egal, ob ihr rechts oder links um den See herumfahrt”, verstehe. Ich fahre nach rechts und lege damit gleich unnötige zwei Kilometer zurück, bis ich auf die reichlich befahrene Landstraße Richtung Chelm, ungefähr 20m links neben unserem Campingplatz abbiege.
Ein Auto nach dem anderen zischt an mir vorbei. Polnische Lastwagenfahrer scheinen es grundsätzlich darauf abgesehen zu haben, mit Fahrradfahrern auf Tuchfühlung zu gehen. Das macht keinen Spaß.
Die heutige Karte lässt immerhin erkennen, dass es zumindest für die erste Hälfte der Trasse einen Weg über die Dörfer gibt, auch wenn er nicht eingezeichnet ist. Wahrscheinlich soll dafür gesorgt werden, dass sich keiner verfährt und dann bei einem erneut anberaumten Interview-Termin mit dem polnischen Fernsehen fehlt.
Es passt zu unserer Stimmung, dass nun heute der Tag ist, an dem die Regenjacke zu ihrem Großeinsatz kommt.
Auch die Dörfer sind im Regen nicht mehr schön.
Ich bin eine halbe Stunde zu spät auf dem Hauptplatz in Chelm, das Fernsehteam drei Stunden.
Und ehe wir im Regen dumm rumstehen, verschwinden wir mit dreißig weiteren Wasserscheuen in dem unterirdischen Kalklabyrinth der Stadt. Bereits im 15. Jahrhundert wurde hier Kalk abgebaut. Insgesamt durchziehen die Erde fünfzehn Kilometer dieser Tunnel. Ob einmalig in Europa, oder nicht, zum Glück durchstolpern wir nur ein Zehntel hiervon. Die Temperatur beträgt hier unten beständig 9° Celsius, winters wie sommers. Aber jetzt sind wir alle ein wenig durchnässt, und bei der Besuchermenge können ohnehin immer nur die ersten Fünf die Führerin verstehen.
Als wir wieder auftauchen hat sich immerhin der Regisseur von TVP3 mit seinem Kameramann und Tonfrau eingefunden. Asia hält Vorträge in die Kamera. Stanislaw berichtet stolz, er sei der Tour-Älteste. Und, dass ich der polnischen Sprache nur bedingt mächtig bin, hält Herrn Hyla auch nicht davon ab, mit mir ein Interview zu drehen. Er verspricht, einfache Fragen zu stellen und quetscht mich dann über die technischen Besonderheiten meines Fahrrades aus. Viel würde mir zu diesem Thema auch auf Deutsch nicht einfallen. Den Gefallen, die Beschaffenheit deutscher Radwege gegenüber den polnischen zu loben, deren Spuren an meinem Drahtesel allzu deutlich sichtbar sind, tue ich ihm nicht. Wäre mir ein gut ausgebauter Radweg wichtig, führe ich jetzt gerade von Berlin an die Ostsee, oder im Rentnerpulk die Donau entlang und nicht ausgerechnet durch Ostpolen. Zumal: Schon die innerstädtischen Radwege der bundesdeutschen Hauptstadt bieten mitunter gute Trainingsmöglichkeiten für All-Terrain-Bikes.
Leider kann ich an dieser Stelle sagen, was ich möchte. Die endgültige Aussage wird nachher am Schneidepult bestimmt.
Glück haben sie ja, denn kaum haben wir unsere bildschirmwirksamen Runden um den Marktplatz gedreht, schüttet es wie aus Eimern. Da hilft bald auch keine Regenjacke mehr. Bis zum Sportplatz in Krasnystaw begleitet uns heftiger Landregen, so dass an Zelten heute nicht zu denken ist. In den Umkleidegarderoben liegen die Isomatten bald dicht an dich, hängen nasse Jacken, Hosen, Socken, Handtücher ringsum, und die Feuchtigkeit hält sich die Nacht über in der Luft.
20. Juli 2005 (Krasnystaw – Zwierzyniec) Feldweg mit Lebensgefahr
Morgens traue ich mich kaum, die Augen aufzuschlagen. Regen ist nicht zu vernehmen. Ein mutiges Blinzeln bestätigt: Der Tag sieht freundlich aus.
Der Vormittag vergeht über dem Trocknen der Textilien, Schuhe und Handys. Alles liegt ausgebreitet auf den Zuschauerbänken des Sportstadions. Ich liege daneben und verspüre keinen Drang, mich in Bewegung zu setzen.
Die Strecke nach Zamosc wirkt überschaubar, so beginne ich die Fahrt mit einem Abstecher zu einem kleinen, tannengrünen, klassizistischen Palast in Tarnogóra, in dem heute sämtliche Schulen der Umgebung versammelt zu sein scheinen. Ein hübscher Anblick, für den es sich dennoch nicht gelohnt hätte, sein Leben zu lassen.
Beim mühevollen Versuch von hier aus wieder auf die Hauptstrecke zu kommen, führt mich ein Feldweg durch tiefen Sand und ebenso tiefe Pfützen, bis sich plötzlich vor mir eine grüne Blätterwand auftut. Zwei Waldarbeiter beschneiden das Gesträuch mit einer lärmenden Motorsäge. Gerade fasse ich den Gedanken, wie ich auf mich aufmerksam machen und nach einer Passiermöglichkeit fragen solle, da stürzt von oben ein ausgewachsener Baum auf mich herab. Zum Ausweichen ist es zu spät, und mein Fahrrad hemmt zudem meine Beweglichkeit. Der Baum stößt mich vom Rad, begräbt mich unter seinem Blattwerk, und zu meiner Rettung bremsen seine eigenen Zweige den Fall einen halben Meter überm Boden. In Erwartung weiteren Baumregens rufe ich auf Deutsch, aber so laut wie möglich um Erhör. Endlich wird die Säge abgestellt, und die Männer halten Ausschau nach der Stimme im Gestrüpp, bis einer die fachkundige Aussage trifft: Es ist eine Frau. Möglich, er wäre mir auch sonst zu Hilfe geeilt, um mich aus meiner misslichen Lage zu befreien, die ich selbst noch nicht ganz realisiert hatte. „Wer ist da?”, will noch jemand wissen. Nicht ganz im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte und sprachlichen Möglichkeiten rufe ich immer nur: „Turistka!” Nun gut. Name und Anschrift hätten hier auch nicht geholfen.
Immer noch zu Boden gestreckt, stellt der „Attentäter” fest, dass ich wohl keine Polin sei, drückt aber dennoch die Zweige so weit zur Seite, dass ich endlich hervorkrabbeln kann. Der Frage, ob alles in Ordnung sei, muss ich erstmal selber nachgehen, aber außer einer Schramme am Oberarm kann ich keine Verletzungen feststellen.
Meine Sorge gilt jetzt dem Fahrrad, von dem mich der Stamm des Baumes gewaltsam getrennt hat. Nachdem ich Auskunft über meine Herkunft gegeben habe, und mir ausdrücklich versichert wird, dass der Anschlag keine böse Absicht gewesen sei, wird mir der Weg zu meinem Rad frei gesägt. Zum Glück – auch mein Gefährt hat sich als widerstandsfähig erwiesen. Die Blätterwand wird für mich unter vielmaligen Entschuldigungen beiseite geräumt, der Trecker aus dem Weg gefahren, und mit der Bemerkung, im Folgenden sei ich wieder sicher, darf ich meine Fahrt fortsetzen.
Mir zittern noch eine ganze Weile die Knie, und als ich endlich die vorgegebene Strecke wieder erreicht habe, lege ich erstmal eine längere Erholungspause ein.
In Zamosc fahre ich ein, als sich die Mehrheit der Gruppe schon wieder in Bewegung setzt. Immerhin, Michael ist bereit, mein Fahrrad zu hüten, während ich einen kurzen Spaziergang durch den historischen Stadtkern unternehme. Die Stadt, im 16. Jahrhundert nach italienischem Vorbild entworfen, verströmt eindeutig mediterranes Flair. Der groß angelegte Rynek (Marktplatz), ein Paradebeispiel weltlicher Renaissancearchitektur, wird beherrscht vom Rathaus mit seinem hohen Glockenturm und der palastartigen doppelten Flügeltreppe. Heute ist hierneben eine Bühne aufgebaut. Der Beginn eines internationalen Folklorefestivals wird erwartet. Ensembles aus Polen, Tschechien, Mexiko und der Ukraine halten Einzug durch die Altstadt bis hin zum Markt. Alles steht auf den Bürgersteigen, um den Marsch zu begrüßen. Aus der kleinen Bäckerei, wo ich versuche, mich mit einem bescheidenen Abendessen zu versorgen, werde ich ungeduldig wieder hinausgeworfen, da der Verkäuferin die Teilnahme am Festival wichtiger ist, als meine paar Zloty. Wenigstens ein paar Kekse kauend, und überaus zufrieden über mein erhaltenes Leben, verbringe ich den frühen Abend mit dem Betrachten unterschiedlichster Volkstänze.
Mein Bedarf an Abenteuern ist für heute gedeckt, und so fahren wir zügigst und auf direktestem Weg zu unserem Nachtlager in Zwierzyniec.
Noch bei Tageslicht baue ich mein Zelt auf und schließe mich umgehend einem kleinen Grüppchen auf der Suche nach einer Dorfkneipe an. Wir werden fündig. Gosia gibt uns mit Hilfe einer Musikbox einen Überblick über die polnische Popmusik der letzten fünf Jahrzehnte, und wir genießen den Abend mit Wodka und Tanz, bis wir sicherheitshalber die Tanzfläche räumen und diese anderen Gästen zum Dart-Spielen überlassen.
Mein Schutzengel hat für heute schon genug geleistet.
21. Juli 2005 (Zwierzyniec – Lubycza Królewska)
Der letzte Tag in Polen! Alles, was nicht ukrainisch ist, kann unsere Aufmerksamkeit heute nicht mehr fesseln.
Zwierzyniec: Morgens auf dem Zeltplatz begrüßen uns der Bürgermeister und der Direktor des Kulturhauses der Stadt, um auf die Vorzüge von Stadt und Umgebung aufmerksam zu machen. Eine alte Brauerei, eine Kirche auf dem Wasser, Naturreservate – schön, schön, aber wir wollen weiter. Josefów – auch ein hübscher Ort, mit Synagoge und Kalksteinbruch.
In Susiec suchen wir nach einer alten Mühle, hören sie auch, aber sehen sie nicht.
Ein herrliches Palastensemble aus dem 19. Jahrhundert jagt uns in Narol einen steilen Berg hinauf. Leider ist die Anlage baufällig und abgesperrt.
Die Cerkiew in Belzec interessiert schon niemanden mehr.
So fliegen wir bereits am späten Nachmittag in Lubycza Królewska ein.
Und, wenn uns in dieser Übergangsstimmung noch etwas begeistern kann, dann diese Schule hier: Drei mal drei getrennte warme Duschen, einen halben Kilometer entfernt am Sportplatz, aber egal, saubere große Klassenräume in genügender Anzahl, eine Küche zu unserer Verfügung und alles, wovon der Radfahrer träumen kann.
Zur Vollendung unseres Glücks haben unsere Gastgeber einen großen Grill voller Würstchen angeworfen. Salat, Brot, Bier und Wasser stehen daneben. Das Lehrerensemble, der musisch orientierten Schule, bringt uns in den Genuss regionaler Volksweisen mit Akkordeonbegleitung.
Lange, lange sitzen wir im Garten voller wehmütiger Gedanken, an die Ereignisse, die bereits hinter uns liegen und voller Erwartung an die Dinge, die uns noch etwas weiter östlich im Nachbarland begegnen werden.
Viele sind heute erst zu uns gestoßen, um in der Gruppe leichter die Grenze zu passieren und die Tour durch die Ukraine anzutreten. Und für einige, mich eingeschlossen, für die Lemberg die letzte Station sein wird, liegt bereits der Abschied in der Luft.
22. Juli 2005 (Lubycza Królewska – Hrebenne – Lviv/Lemberg)
Ist das aufregend! Gleich erreichen wir die Grenze und damit ein für uns völlig fremdes Land.
Die Instruktionen beim morgendlichen „Map-Meeting” scheinen mir dennoch etwas übertrieben. Gefahren werden uns angekündigt. Wir werden angewiesen, ab jetzt nur noch in größeren Gruppen zu fahren, damit immer genügend Leute auf die Räder aufpassen können. Die Wertsachen sollten am Körper getragen und unnötiges Gepäck im Bus verstaut werden. Vorsicht kann selten schaden, also wird alles befolgt. Denkbar wäre dieselbe Situation in einer deutschen Reisegruppe kurz vor der polnischen Grenze. Im Osten – da sind immer die anderen.
Pünktlich um 9 Uhr wuseln wir mit unseren Rädern zwischen den Schlangen wartender Autos herum, und sind kaum anderthalb Stunden später auf der ukrainischen Seite.
Da sind wir doch seit Wochen in den abgelegensten und ärmsten Gegenden Polens unterwegs, aber was wir hier zu sehen bekommen, übertrifft das alles noch an ländlich, friedlichem Idyll einerseits und unaufhaltsamem Verfall und Armut andererseits.
Pferdefuhrwerke gehören wie selbstverständlich zum Straßenbild, Kühe und vor allem Gänse säumen die Wege. Ein Pferd hoch auf der Laderampe eines offenen Transporters stehend, der wenig rücksichtsvoll über die Landstraße rumpelt, beeindruckt uns alle durch seinen ausgeprägten Gleichgewichtssinn . Nur die Kirchen, die sind hier noch mal so groß und so prächtig. Wir haben den Eindruck, jedes Dorf bestehe aus weniger Wohnhäusern als Kirchen.
Hinter einer uralten Holzkirche erschrecken uns plötzlich zwei übermenschengroße, weißbepinselte Sportlerstatuen am Straßenrand. Sie laden zu einem für das unscheinbare Dorf viel zu großen Sportstadion sozialistischer Manier.
Die Menschen sind überaus freundlich. Nicht wenige sprechen hervorragend Polnisch, und selbst Wegbeschreibungen auf Ukrainisch können wir folgen, sind doch die Ähnlichkeiten beider Sprachen unverkennbar. Eindeutiges Armeschwenken hilft natürlich ebenfalls.
Schowkwa ist die einzige nennenswerte Stadt auf der Strecke bis Lemberg. Auf dem Rynek legen wir eine Pause ein und schwärmen grüppchenweise aus, um die nähere Umgebung zu erschnuppern, während immer ein Rest brav bei den Fahrrädern verharrt.
Der Hauptplatz ist von beeindruckender Weite. Kirchen, Palastanlage und Stadtmauer versprechen großstädtische Dimensionen. Im erschreckenden Kontrast dazu stehen die vertrockneten Grasflächen, die zertrampelten Wege. Das obligatorische Denkmal inmitten der Wohn- und Geschäftshäuser ist abmontiert – ein weiterer kahler Fleck auf dem unwirklich anmutenden Gelände.
Wir werfen einen Blick hinter das Stadttor und finden uns in einer Dorfkulisse wieder. Kühe weiden in den Gärten kleiner Einfamilienhäuschen. Wäsche flattert in der Sonne.
Die letzte Etappe unserer Reise legen wir auf der befahrenen Ausfallstraße zurück. Die hügelige Gegend um Lemberg bringt uns noch ein letztes Mal ganz schön ins Schwitzen. Aber dann steht es vor uns. Schwarz auf weiß, in kyrillischer Schrift: Das Ortseingangsschild von Lemberg/ Lviv.
Trotz nahender Dämmerung findet hier erstmal eine Fotoorgie statt – jeder fotografiert jeden, mit jedem, einzeln, und in der Gruppe.
Von Lemberg selbst sehen wir auf diese Weise heute nichts mehr. Eine Reifenpanne und ein Sturz vom Fahrrad lassen uns als letzte Truppe bei Dunkelheit in der Stadt einfahren. Die polnische Schule, die uns beherbergt, ist bereits bis unters Dach mit Leuten, Fahrrädern, Isomatten, Rucksäcken gefüllt, so dass wir uns auf dem Flur ausbreiten.
Viele fremde Gesichter begegnen uns. Hier trifft unsere polnische Gruppe mit den Teilnehmern der litauischen Gruppe zusammen, die übermorgen gemeinsam ihren Weg fortsetzen.
23. Juli 2005 Lviv/ Lemberg
Das morgendliche Schlangesitzen vor den insgesamt zwei mal zwei Duschen gerät zum Sit In mit Partycharakter. Dabei ist jeder angehalten, sich mehr als sonst zu beeilen. Schließlich gibt es in Lemberg nur einmal morgens und einmal abends für angeblich drei Stunden fließend Wasser. Das fiel uns leider auch erst ein, als wir des nächtens unsere Zahnbürsten unter den streikenden Wasserhahn hielten.
Frisch geduscht erhalten wir und unsere doppelt frischen Bekannten eine Führung durch die Altstadt.
Ivan, ein Psychologiestudent, verdient seinen Lebensunterhalt sonst nicht auf diese Weise, weiß uns aber eine Menge zu erzählen und geht auf individuelle Wünsche ein. Fließend wechselt er vom Englischen ins Polnische und umgekehrt.
Das historische Stadtzentrum ist überschaubar, aber Lemberg ist eine Großstadt mit rund 800 Tausend Einwohnern und dem dazugehörigen Plattenbaugürtel in allen vier Himmelsrichtungen zwischen den bewaldeten Hügeln.
Vom Rathausturm aus können wir uns hierüber einen wunderbaren Überblick verschaffen. Was wir sehen lädt zur ausgiebigen Erkundung ein, der wir, sowie wir aus Schwindel erregender Höhe zum Boden zurückgekehrt sind, sogleich nachkommen.
Die Stadt blieb im 2. Weltkrieg unzerstört und stand wie das oft als ihre Schwesterstadt bezeichnete Krakau, lange unter Habsburger Herrschaft. Kaffeehäuser haben auch hier Tradition. Heute allerdings sitzt ganz Lemberg auf den zahlreichen Bänken des „Prospekt Svobodi” und spielt, Brettspiele, Domino. Wer nicht spielt, der heiratet. Es wimmelt von auffallend jungen Brautpaaren, jeweils eine kleine Gästeschar in für unseren Geschmack bizarrer Kostümierung im Schlepptau. Fotografen springen um sie herum und animieren zu noch bizarreren Posen.
Wir staunen sehr und fühlen uns kaum 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt plötzlich fremd.
Neugierig saugen wir alles auf: Die unzähligen Kirchen, Theater, Parks, Märkte, malerische Hinterhöfe.
Bald jedoch wird die Frage um die Rückkehr samt Fahrrad nach Polen zum zentralen Thema. Seit Tagen diskutieren alle, die von Lemberg die Rückreise antreten, über die Möglichkeiten das Fahrrad mit in die regionalen Züge zu nehmen und über die Grenze zu radeln, oder mit dem Bus direkt bis Warschau zu fahren. Fest steht: Internationale Züge nehmen definitiv keine Fahrräder mit, und alle anderen Varianten sind auch nur Spekulation. Da außer mir nur noch Agnieszka ein per pedales untransportables Gepäck mit sich herumschleppt, hatten wir beschlossen, dieses Abenteuer gemeinsam zu bestehen. Nur ist ausgerechnet sie seit Stunden unauffindbar.
Zurück in der Schule diskutieren wir bald zu zwanzigst die Fahrpläne und Chancen durch, unabhängig, wer nun wirklich vorhat, abzureisen.
Schon hatte ich jemanden gefunden, der, da ohne Fahrrad unterwegs, bereit war, mein Gepäck am nächsten Morgen im Bus mitzunehmen, so dass ich es in Przemysl wieder in Empfang nehmen könnte, bis wohin ich die 30 Kilometer radeln könnte. Da taucht kurz vor Mitternacht Agnieszka auf und teilt mir mit, Ivan, unser Stadtführer habe uns eingeladen, am nächsten Tag bei ihm zu übernachten, so dass wir zwei Tage später den Nachtbus nach Warschau nehmen könnten. Eine verlockende Aussicht. Weigerten sich die Busfahrer am Montagabend, unsere Fahrräder mitzunehmen, käme ich definitiv zu spät in Deutschland an. Aber die Aussicht, noch ein wenig mehr Zeit in dieser aufregenden Stadt zu verbringen, ist einfach zu verlockend.
Wird schon schief gehen. Problem gelöst, und jetzt wird Abschied gefeiert. Bier, Wein, Wodka – alles da: „Pije do ciebie! Pij’ zdrów!”(wörtlich: Ich trink auf Dich! Trink gesund!).
24. Juli 2005 Immer noch Lemberg
Aufbruchstimmung! Wer noch nicht im Zug oder Bus nach Polen sitzt, packt, tauscht Adressen, fotografiert, fällt lieb gewonnenen Menschen um den Hals und wischt sich die ein oder andere Träne aus den Augen. Dann biegt sie um die Ecke, die lange, lange Schlange der Leute, mit denen wir gut drei Wochen verbracht, oder die wir gerade kennen gelernt haben. Wehmut mischt sich mit Neid. Niemand unter uns, der nicht gerne auch noch weitergefahren wäre.
Jetzt sitzen wir hier noch zu siebt auf unseren Taschen und warten auf Ivan. Pünktlich holt er uns ab, da sind wir nur noch vier, und schließlich bleiben Agnieszka und ich.
Zu Fuß erreichen wir das schmucke Haus am Rande der Stadt. Wir sind keine halbe Stunde gelaufen und fühlen uns wie auf dem Dorf. Obstbäume stehen im Garten. Der große Hund polnischen Bluts begrüßt uns Schwanz wedelnd. Auf einer Bank vor dem Haus sitzt die Großmutter, ebenfalls polnischer Herkunft, wie sie gerne betont. Eine Tante aus der Ostukraine ist gerade zu Besuch, und Ivans Mutter, Luba, zeigt sich über die Maßen gastfreundlich. Auch sie spricht fließend Polnisch.
Dann zieht es uns zurück in die Altstadt. Voran geht das Abenteuer Straßenbahn: Die „2” beginnt hier oben ihre Fahrt durch das Zentrum. Für 50 Kopeken, umgerechnet vielleicht 10 Cent, die die Schaffnerin (bei der Straßenbahn scheinen grundsätzlich nur Frauen zu arbeiten) während der Fahrt persönlich abkassiert, geht es quietschend über die abgenutzten Schienen in die Stadt hinein. Wie so oft in dieser Stadt werden wir angesprochen, kaum dass wir uns niederlassen. Ob wir Zigeunerinnen seien? Ein Blick in den Spiegel macht diese Unterstellung plausibel: Beide schwarzhaarig, sonnengegerbt, etwas zottelig und nicht eben adrett gekleidet. Schließlich ziehen wir auch schon seit Wochen von Ort zu Ort. Wir müssen zustimmen.
Unser „Privatführer” zeigt uns jeden Winkel der Altstadt. Hier kann man den besten Cocktail trinken, dort, in einer Theaterkantine, besonders günstig essen, hier am besten Briefmarken erwerben, da hat man die größte Auswahl an Büchern und CDs. Unser Lieblingssport, das immer flüssigere Entziffern kyrillischer Aufschriften, erweist sich ob des bearbeitungsbedürftigen Straßenbelags als nicht ungefährlich. Hoch erhobenen Hauptes stolpern wir also durch die Straßen.
Auch die herrlich verwunschenen, leider meist baufälligen Hinterhöfe haben es uns angetan. Instandhaltungsmaßnahmen scheinen sich oft auf die Fassaden zu beschränken.
Unvermittelt treffen wir in der Stadt auf Kathrin und Gosia, die auch erst morgen abfahren, allerdings die Variante gewählt haben, über die Grenze zu radeln. Gemeinsam besuchen wir die armenische Kirche, die von uns allen spontan als Lieblingskirche erkoren wird. Ein Märchen aus 1001 Nacht. Eine Farbenflut im Kerzenschein bestimmt das Hauptschiff. Armenische Chöre singen vom Band. Nach all dem Her mrennen, den überwältigenden Eindrücken, den Aufregungen und Abenteuern – hier halten wir inne.
Abends werden wir bald wieder mit ganz irdischen Sorgen konfrontiert. Wir sind hungrig, aber zu spät dran: Nach 21 Uhr will uns hier keine Kneipe auch nur ein belegtes Brötchen offerieren. So knabbern wir zu fünft an einer Tüte Pistazien und lassen uns die Stimmung nicht verderben.
Mit Minibussen über deren Fahrplan nicht einmal Ivan den Überblick behalten kann, gelangen wir jeweils in unsere Quartiere – ohne Wasser, dafür aber im Bett, respektive mit einem Teppichbelag unter der Isomatte und schnarchfrei. Der pure Luxus!
25. Juli 2005 Letzter Tag
Ausgeschlafen und erholt genießen wir ein reiches Frühstück mit frischgebackenem Apfelkuchen, Rührei und Wassermelonen aus ukrainischem Anbau. Das kostbare Trinkwasser, das überall in den Straßen aus großen Wassertanks verkauft wird, zum Waschen zu nutzen, trauen wir uns nicht. Ein bisschen Schminke und Agnieszkas neu erworbene Korallenkette müssen für den guten Eindruck reichen.
Inzwischen telefoniert unser Gastgeber für uns alle Bus- und Bahnhöfe ab: Über die Fahrradmitnahme entscheiden die Busfahrer.
Dann verabschieden wir uns von den letzten beiden verbliebenen Radelgenossinnen und unternehmen einen letzten Ausflug in die Altstadt.
Lange warten wir vergebens in der prallen Sonne an der Straßenbahnhaltestelle auf Beförderung, bis uns zwei Frauen darüber aufklären, dass zwei Linien gerade keinen Strom haben. Die „2” ist darunter. Gut, dass wir von Ivan mit einer langen Liste Mikrobusnummern ausgestattet wurden, die uns in Zentrum bringen könnten. Es dauert nicht lange, da kommt ein Gefährt mit einer passenden Nummer. Wahrscheinlich dank des Ausfalls der Straßenbahn ist dieses voller denn je. Ab einer Körpergröße von 1,60m ist aufrechtes Stehen hier nicht möglich. So fahren wir blind, mit eingezogenem Kopf, mächtig transpirierend und die Unebenheiten des Straßenpflasters in Skifahrermanier immer schön mit den Knien abfedernd – ins Irgendwo.
Ein „Mitsaunierer” hört uns polnisch reden und bringt sich umgehend ins Gespräch ein. Er scheint die Strecke gut zu kennen und errät instinktiv, wann er uns den Impuls zum Aussteigen geben soll. „Prospekt Svobodi” – sei uns abermals gegrüßt!
Nachmittags sind wir mit Ivan verabredet. Er möchte uns zum Skansen begleiten, wo seine Mutter im ethnologischen Museum arbeitet. Hinter ihm stapfen wir über zugewachsene Bahnschienen. Ein Bauer treibt uns seine Ziegen entgegen. Eine gewisse Ähnlichkeit der Situation drängt sich auf. Und durch diese ländliche Kulisse inmitten der Großstadt gelangen wir nun in eine Ukraine der letzten Jahrhunderte. Aus allen Landesteilen wurden hier Höfe, Hütten und Kirchen zusammengetragen und wieder aufgebaut. Auf eine Führung durch den Fundus des Museums müssen wir leider verzichten, da Luba schon den Heimweg angetreten hat.
Dafür kommen wir während des Abendessens in den Genuss einer Einführung in die ukrainische Volkskunst. Wir sehen Fotos und eigenhändig bestickte Festkleidung, in der es uns schwer fällt, uns Ivan vorzustellen, der diese wohl zu manchen Gelegenheiten trägt.
Hinter dem Muster jedes Ärmels steckt eine Philosophie: Das Leben eingeteilt in den Fluss des Wassers, das Auf und Ab des irdischen Seins und die geistige Stofflosigkeit des Himmels.
In der Ukraine sei alles dreigeteilt, hatte eine Bekannte Lubas bemerkt.
Während des Vortrags sorgt Ivan dafür, dass wir auch nicht vergessen, unsere Suppe zu löffeln – eine kalt servierte Rote-Beete-Suppe mit viel Dill, Lauch, Kefir und anderen Zutaten, die ich auf Polnisch nicht wieder erkenne. Es schmeckt herrlich!
Dann aber wird es endgültig Zeit, aufzubrechen. Die Strecke zum Busbahnhof wird uns bis ins letzte Detail beschrieben. Ivan bringt uns mit dem Bus die Zelte und Agnieszkas Rucksack nach. Ihre Sorge gilt während der Fahrt meiner Kondition, da ich mein Gepäck auf dem Rücken trage. Ich befürchte eher einen Schwächeanfall ihres Fahrrades auf den letzten Metern. Da höre ich es auch schon laut hinter mir klappern. Es war nur das Schutzblech, das da soeben auf die Straße fiel. Pünktlich sind wir am Internationalen Busbahnhof Lembergs, einem überdimensionalen Gebäude, vor dem sich selten mehr als zwei Busse gleichzeitig aufzuhalten scheinen und neben dem stattdessen in aller Seelenruhe Kühe weiden.
Mit den ukrainischen Busfahrern (die polnischen sollen angeblich strenger sein) verhandelt Ivan. Und ohne Schwierigkeiten oder Aufpreis dürfen unsere Fahrräder vor der letzten Sitzbank Aufstellung nehmen.
Nun kann nichts mehr schief gehen.
Wir verabschieden uns von unserem Freund und Helfer.
Dann lassen wir bald darauf dieses aufregende Land wieder hinter uns und fahren durch die Nacht nach Warschau – nach Hause, was schon fast dasselbe ist.